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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Eine erinnerungsreiche Sommerfrische.

Mit Abbildungen.

Amnuthig Thal, du immergrüner Hain,
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste!
Entfaltet mir die schwerbehangnen Aeste,
Nehm’ freundlich mich in eure Schatten ein.
Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb’ und Lust,
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust! …

Wo am südöstlichen Abhänge des Thüringer Waldes die Ilm nach ungefähr zweistündigem Laufe aus dem Gebirge heraustritt in das System seiner Vorberge, dehnt sich, auf der einen Seite durch die Höhenzüge des Hochgebirgs, auf der andern durch sanft abfallende Hügelketten umgrenzt, viertelstundenweit[WS 1] eine Thalsenkung, deren Oberfläche aus duftigen Wiesenmatten und fruchtbaren Feldern gebildet wird, zwischen denen hie und da ein glatter Wasserspiegel aufschaut. Mitten hindurch wandert das muntere Gebirgskind, die Ilm, die ihrer Jugend ungeachtet schon wacker schafft, wie das Klappern verschiedener Triebwerke verkündet. Dort wuchs nach und nach ein nettes Städtchen heran, welches sich im Halbkreis um den vorspringenden Höhenzug der Sturmhaide anschmiegt und dort die liebliche Aue der Ilm beherrscht: die Bergstadt Ilmenau.

Alljährlich um die Pfingstzeit, wenn der lachende Frühling dem grämlichen Winter das Schneekleid vom Leibe gerissen hat und das Gebirge zugänglich geworden, da beginnt der Strom der Wanderlustigen sich durch die Gegend zu ergießen, und späterhin, wenn die Blumen der Au am vollsten blühen, wenn das duftige Gras in Schwaden fällt und die Aehren schwerer und schwerer an den Fruchthalmen nicken, da erhöht sich die gewöhnliche Einwohnerzahl des Städtchens von Dreitausend und einigen Hunderten um tausend und mehr Personen. Was zieht sie herbei? Es ist der landschaftliche Reiz der Gegend, die herrliche Luft und das köstliche Quellwasser, es ist die Classicität des Platzes, an den sich heilige Erinnerungen knüpfen.

Ja, nach welcher Himmelsgegend wir auch wandern – so lange uns der Wald umfängt und die Höhen des Bergrückens tragen, ist’s überall schön, und Alles muthet uns herzerquickend an. Schauen wir uns vom Habichtsfang, einer Höhe bei Oberpörlitz, um. Zu unseren Füßen breitet sich die Aue. Kühn und gewaltig erhebt sich darüber hin der massige Gebirgsstock des Kickelhahns. Die höchste Höhe, mit einem steinernen, 1854 erbauten Aussichtsthurme bekrönt, ruht monumental auf einem ausgedehnten Unterbau von Bergen, aus denen sich verschiedene Kuppen in gefälligen Linien abheben. Coulissenartig schiebt sich Hang an Hang in die Thäler herab, bis der fernere Zug des Gebirges dem Blicke Halt gebietet.

Nach Nordost und Ost hin gleitet das Auge über ein Gewimmel bewaldeter Hügel hinweg in fruchtbare Fluren. Freundliche Orte grüßen herüber, und die Contouren eines Bergzuges in bläulichem Fernduft schließen das Bild ab. Es hat Natur

– „hier Berg an Berg gereiht.
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Thal gemildet.
Da grünt’s und wächst’s –“

Und in Bergen und Wäldern drinnen, welch ein Reichthum großartiger und lieblicher Punkte und Gestaltungen! Steige vom vielbesuchten Gabelbach aus mit dem Thurmwart Kilian Merten, dem bewährten Kenner Thüringer Berge und Fluren, auf den Kickelhahnsthurm und laß dein Auge in weite Fernen schweifen, lagere dich am Fuße des großen Hermannstein, dem Lieblingsaufenthalte Goethe’s, dringe tief hinein in den dichten Gebirgswald, wohin die weit in der Runde gebahnten glatten Pfade nicht mehr reichen, wo das leise Sausen und Anschwellen jenes alten geheimnisvollen Liedes, das der Wind in den Baumgipfeln singt, nur durch fern herüberklingende Axtschläge der Holzhauer unterbrochen wird, durchwandere das Ilmthal an dem Rabenthal vorüber bis Stützerbach hinauf oder rechtsab in dem kerngesunden Walde hinaus bis zur überall gekannten Schmücke mit dem prächtigen Schneekopf, oder gehe der Schorte, die sich beim Grenzhammer mit der Ilm vereinigt, entgegen, belausche das Reh, das sich in einsamer Gebirgsschlucht langsam über die saftige Bergwiese hinäst: du wirst Bilder und Stimmungen finden, die dich in hohem Grade befriedigen, die dir wahrhaften Genuß verschaffen.

Und welche Luft weht hier durch Berg und Thal! Wie frisch und rein sprudeln diese Quellen! Wenn ich die Thatsache anführe, daß der Druck der Luftsäule auf den Menschen beispielsweise am Meere 30000 Pfund, in Berlin 29800 Pfund, in Ilmenau nur 27800 Pfund beträgt, so wird man leicht begreifen, wie bei so bedeutender Entlastung die menschlichen Organe hier ihren Dienst leichter und freier verrichten können. Dazu kommt der außerordentliche Ozongehalt dieser Luft, der den Verbrennungsproceß des Blutes so wesentlich befördert und so auf die natürlichste Weise die Reinigung des Blutes herbeiführt. Eine Sommerfrische in diesen Bergen hat schon vielfache Wunder gethan; hat sich der Acten- und Bücherstaub noch so dick angesetzt – hier muß er nach und nach herab. In Verbindung mit jenen natürlichsten aller Heilmittel sind zweckmäßig eingerichtete Badeanstalten bestrebt, Gesunden und Kranken Erfrischung der erschlafften Glieder oder Linderung und Heilung der Leiden zu verschaffen.

Weiter aber, welche Erinnerungen haften an diesem Boden!

„Meine Ufer sind arm; doch höret die leisere Welle,
Führet der Strom sie vorbei, manches unsterbliche Lied.“

Mit diesen Worten führte Schiller die Ilm unter seinen Flüssen ein, und Goethe ließ in dem berühmten Maskenzuge, der am 18. December 1818 zu Ehren der damaligen Kaiserin-Mutter von Rußland in Weimar veranstaltet wurde, die Ilm auftreten und verkünden:

„Droben hoch an meiner Quelle
Ist so manches Lied entstanden,
Das ich mit bedächtiger Schnelle
Hingeflößt nach allen Landen.“

Die Zeit, in welcher so manches unsterbliche Lied hoch an der Ilmquelle entstand, beginnt mit dem Jahre 1776, und der Dichter war Goethe selbst. Bald nach seiner Ankunft in Weimar kam er mit seinem fürstlichen Freunde Karl August nach Ilmenau. Nachdem der Herzog sich überzeugt hatte, wie schädlich die Hegung des Wildes nicht allein dem Ackerbau, sondern auch der Forstcultur werden müsse, und die Verringerung des Wildstandes beschlossen worden, ging es an’s Jagen, und als die Reihen der Hirsche und Rehe genügsam gelichtet waren, an ernstere Arbeiten, namentlich an die Wiederherstellung des gänzlich niederliegenden Bergbaues.

In diese Zeit fällt die Entstehung des Gedichtes „Dem Schicksal“, welches Goethe mit folgenden Zeilen an [Johann Caspar Lavater|Lavater]] schickte: „Hier ein paar Zeilen meines Gefühles, aus dem Thüringer Walde geschrieben den 3. August, Morgens unter dem Zeichnen.“ In jener ursprünglichen Gestalt lauteten die ersten Verse des Gedichtes:

„Was weiß ich, was mir hier gefällt,
In dieser engen, kleinen Welt
Mit leisem Zauberband mich hält!
Mein Karl[1] und ich vergessen hier,
Wie seltsam uns ein tiefer Schicksal leitet;
Und ach! ich fühl’s, im Stillen werden wir
Zu neuen Scenen vorbereitet“ etc.

Um sich vom Zustande des lange verlassenen Grubenwerkes zu überzeugen, nahmen damals Karl August und Goethe eine Besichtigung desselben vor, wobei der Erstere beinahe das Leben verlor. Im Schachte brach eine Leitersprosse, und Karl August, der im Eifer vorangestiegen war, stürzte hinab in die Tiefe. Ohnmächtig wurde er hinaufgefördert und in’s Forsthaus getragen. Ein Husar jagte nach Jena, um Professor Loder zu holen. Inzwischen wurde vergeblich nach dem Ilmenauer Arzte und Feldscheer geschickt; beide waren gerade auswärts; nur ein junger Gehülfe des Letzteren wurde herbeigebracht. Dieser legte den ersten Verband so trefflich an, daß Loder bald wieder abreisen und den hohen Kranken der ferneren Behandlung des jungen Menschen anvertrauen konnte. Karl August wies dem Gehülfen die Mittel zum Studiren an; dieser aber schrieb eine

  1. Karl August.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage lückenhaft; ergänzt aus GDZ Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_476.JPG&oldid=- (Version vom 14.8.2021)