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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


von selbst hatte man ihr nichts erzählt, weil man es wohl für überflüssig erachtete und sie als Angehörige des Hauses betrachtete, wie sie selbst sich mit ihm gleich einem als winziges Stämmchen dahin verpflanzten Baume verwachsen fühlte. Dieser Zustand harmloser Unbefangenheit, dieses friedliche Dahinleben war mit einem Male zerstört und konnte nicht wieder kommen, so wenig als einem gesprungenen Glase, auch wenn es noch lange zusammenhält, der entstellende Spalt wieder verschwindet.

Sie war mit sich einig, daß sie das nicht länger ertragen wolle; sie mußte Gewißheit haben über sich selbst und nahm sich vor, die nächste Gelegenheit vom Zaune zu brechen, um sie vom Lindhamer zu erhalten; wären die unerwarteten Vorfälle nicht dazwischen gekommen, sie hätte wohl schon den Sonntag Abend benutzt, um die Entdeckung herbeizuführen.

Als sie Aibling erreichten, war das Gewühl des Jahrmarktes im raschesten Flusse. Besonders die Kirchgasse entlang standen die Buden der Verkäufer gereiht, der Krämer, welche Joppen, Lederhosen und Stiefel feil boten, wie sie der Bedarf des Landmannes sind, der Juden, welche mit bunten Seidentüchern und schimmerndem Bänderkrame die Mädchen lockten, und der Kleinhändler, die das Allerlei ihres Groschenkrames unermüdlich anpriesen, bis herunter zu Denen, die auf einem bescheidenen Stangengerüst Zündhölzer und Feuerschwamm oder Käse oder Mandelplätzchen, Zuckerbrod und Lebzelten aufgestapelt hatten. Am lebhaftesten war das Gedränge um den kleinen Platz, den ein paar große Gasthäuser wie einen Winkel einschlossen, denn hier hatten sich die Schaubuden zusammengefunden, die bei einem solchen Anlaß auf dem Lande niemals fehlen. In der Mitte des Platzes hatte eine Bande von Springern und Seiltänzern eine Art von Leinengezelt aufgeschlagen, in welchem sie ihre Künste producirten. Die außen angebrachten Malereien und der nimmer ermüdende Ausrufer verkündeten, daß hier ein wilder Buschmensch zu sehen sei, der ein lebendes Huhn mitsammt den Federn verzehre, daß ein weltberühmter Künstler auf dem gespannten Seile ein Hufeisen schmieden und eine nicht minder gefeierte Künstlerin als Non plus ultra den hier zu Lande noch nie gesehenen Eiertanz aufführen werde.

Es war dieselbe Gesellschaft, die Abends vorher mit ihrer Musik herumzog; der Eine davon hatte bereits ein Ungeheuer von Bart und Perrücke aufgesetzt, um vor dem unkundigen Publicum als wilder Mann zu gelten; der Geigenspieler zeigte sich vor der Thür als Athlet und Tänzer, im geflickten rosenrothen Tricot, um die Hüften ein kurzes Beinkleid von einstmals roth gewesenem Taffet und ein messingenes Diadem um die Stirn. Auch die Harfenspielerin war in ähnlicher Weise gekleidet; der hochgeschürzte schwarze Rock, das tief ausgeschnittene rothe Mieder, auf dem Kopfe eine Art Turban, und die vertretenen Stiefelchen von gelbem Saffian ließen sofort errathen, daß sie es war, welche der dicht geschaarten gaffenden Menge das kunstvolle Schauspiel des Eiertanzes gewähren sollte.

Auch Wolf war unter den Zuschauern; er hatte noch Zeit genug vor sich und fand kein Arg darin, sich die Komödie ebenfalls mit anzusehen. Er legte das Eintrittsgeld vor den Athleten hin, der ihn sogleich erkannte und auf’s Freundlichste grüßte; der Mann schlug den bunten Kattunvorhang, der den Eingang verhüllte, mit tiefem Bückling zurück und nöthigte den großmüthigen Gönner, in der vordersten Reihe Platz zu nehmen, der eigentlich nur für die etwaigen Honoratioren bestimmt war. An dem Leinwandumhange, durch das Gedränge verdeckt und darum auch von Wolf unbemerkt, stand Dickl mit dem Brunngrabersepp auf der Lauer; sie waren unmittelbar nach der Abfahrt des Alten von Lindham weg und nach dem Straßwirthshause geeilt, von dort aber mit dem Fuhrwerke des Wirthes nachgefahren. Im Markte angekommen, war es ihnen nicht schwer geworden, Wolf’s Anwesenheit und Alles, was Tags vorher geschehen, zu erfahren.

„Siehst Du, daß ich eine gute Nase habe!“ sagte Sepp halblaut. „Wir haben ihn richtig aufgespürt – hast Du gesehen, wie bekannt der Komödiant mit ihm gethan hat? Heiß’ mich einen Dummkopf, wenn sich da nichts anspinnt, was man brauchen kann!“ …

Im nächsten Augenblicke waren sie ebenfalls in der Bude, aber ganz hinten auf dem geringsten Platze, wo sie, selber ungesehen, doch den ganzen Hüttenraum überblicken konnten.

Das Spiel begann nach einiger Zeit; ein Luftspringer machte auf einem Teppiche die unglaublichsten Körperverrenkungen; ein anderer fing Teller und Kugel auf und balancirte einen spitzen Degen auf der Nase; die Künste auf dem Seile gingen vor sich; der Buschmann fraß sein Huhn, und Alles war im höchsten Grade auf den Schluß, den vielverheißenden Eiertanz, gespannt. Um die Erwartungen noch mehr zu erhöhen, wurde sogar eine Bettdecke wie eine Art Vorhang vor das bis dahin offene Fußgestell gezogen, das die Bühne bildete; aber Minute um Minute verging, ohne daß der Vorhang sich wieder öffnete. Dagegen wurden hinter demselben streitende Stimmen immer lauter vernehmbar, offenbar waren die Künstler uneins geworden und bereiteten sich unter einander selbst Hindernisse. Der Geiger kam zuletzt mit zornrothem Kopfe heraus; er hatte einen gewöhnlichen Ueberrock über das Athletengewand gezogen und eilte durch die Zuschauer davon, unbekümmert um die Tänzerin, die ihn zurückzuhalten versuchte und, als dies nicht gelang, ebenfalls mit hochgerötheten Wangen und verwirrt vor den Zuschauern stand.

Da fiel ihr Blick auf Wolf, und mit lebhaft aufblitzender Freude eilte sie auf ihn zu.

„Ihr seid da, guter Freund?“ rief sie. „O, nun ist mir geholfen! Der Tollkopf hat gemeint, mich um den Eiertanz zu bringen, wenn er nicht die Geige dazu spielt, weil ich Musik haben muß, um nicht daneben zu treten … aber Ihr könnt statt seiner spielen. … Eine Cither ist da; den Tanz kennt Ihr … Ihr habt ihn gestern auch gespielt … o, kommt geschwind herein und helft mir aus der Noth … nicht wahr, Ihr schlagt mir’s nicht ab?“

Wolf wußte nicht, wie ihm geschah; es regte sich etwas in ihm, was ihn abmahnte, aber als ihm das Mädchen so herzlich bittend in’s Gesicht sah, war es ihm, als ob Th’res vor ihm stände und die lieben Augen zu ihm aufschlage, und halb wollend, halb gezogen, folgte er ihr hinter den Vorhang; wenige Augenblicke später lutschte Dickel aus der Bude.

Der alte Lindhamer hatte unterdessen den ganzen Jahrmarkt durchwandert und überall seine Augen gehabt, als wären sie mit einmal wieder ganz frisch und schmerzlos geworden. Er gab sich den Anschein, als ob er sich Alles recht genau besehen wolle, aber den er suchte, fand er nicht, und eine Frage nach ihm zu thun, war ihm unmöglich. Er wollte sich nicht den Schein geben, als kümmere er sich um den leichtfertigen Burschen. Th’res, die ihn vollkommen errieth, hatte unter allerlei Vorwänden versucht, sich von ihm auf kurze Zeit loszumachen: sie wollte Wolf allein aufsuchen und warnen, denn sie fürchtete das Schlimmste, wenn die beiden Starrköpfe unvorbereitet aufeinander träfen, aber der Alte, der sie nicht minder durchschaute, ließ sie keinen Augenblick von seiner Seite und machte lieber an jeder Bude, wo sie feilschte und kaufte, den geduldigen Zuschauer und und Rathgeber. Als sie zu der Hütte der Springer kamen, blieb er stehen, besah die Malereien und hörte die Anpreisungen des Ausrufers, während drinnen bereits die Vorstellung begonnen hatte und Gelächter und Händeklatschen verrieth, wie sehr die Leute daran Gefallen fanden.

„Wie ist’s? Wollen wir auch hinein?“ sagte er. „Weil ich Dich doch einmal mitgenommen habe auf den Markt, muß ich doch auch sorgen, daß Du was zu sehen kriegst.“

„Ich mag nit,“ sagte Th’res abwehrend, „ich mag so ’was nit sehn – ich mein’, ich müßt’ für die Leut’ roth werden, die sich nit schämen und sich anschauen lassen und selber ausstellen, wie wenn sie wilde Thier’ wären …“

Sie wollten weiter gehen, aber das wachsende Gedräng der Neugierigen bannte sie einige Secunden fest. Einer von den Ortsbürgern, der am Abend vorher mit auf dem Keller gewesen und einigen Begegnenden davon erzählte, kam zufällig hinter ihnen zu stehn. Sie mußten einen Theil des Gesprächs mit anhören, und als der Alte einige Worte davon vernommen hatte, blieb er hartnäckig stehen, so sehr Th’res, der beinahe das Herz still stand vor Schrecken, ihn fortzuzerren bemüht war. Lachend erzählte der Mann, wie lustig es gewesen, was sich Alles begeben und wie ein Bursche, den er nicht gekannt, die ganze Gesellschaft unterhalten habe. Er solle der Sohn eines reichen Bauern sein und nicht viel taugen, aber Citherspielen und Kegelschieben verstehe er aus dem Grunde, und jetzt sei er gar da drinnen in der Schaubude …

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