Seite:Die Gartenlaube (1873) 400.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


konnte doch nicht für sich sammeln wie ein Bettelmusikant, und doch wollten sie es nicht darauf ankommen lassen, ihm eine Gabe abzuschlagen. Sie sahen einander mit bedeutsamen Blicken an, aber sie thaten ihm den Willen, und auch die Fremden weigerten sich nicht, den Teller zu bereichern. „Gott straf mich!“ sagte der Major, indem er sich mit seiner Gesellschaft entfernte, „ich fange an zu fürchten, daß Sie Recht behalten, Herr Landrichter – das resolute Wesen an der Kegelbahn und sein treffliches Citherspiel bestärkten mich anfangs in meiner guten Meinung, aber daß er nun mit dem Teller sammeln geht – daß er das über sich gewinnt, das wirft Alles mit einem Male über den Haufen … Der Bursche hat keine Ehre im Leibe!“

„Ich bedaure, daß ich Ihnen nicht widersprechen kann,“ erwiderte der Landrichter; „es ist ein prächtiger Bursche, dem Alles gelingt, was er nur anfaßt, aber wenn er es nicht schon geworden, ist er offenbar auf dem nächsten Wege, ein Taugenichts, oder wie man sich hier zu Lande ausdrückt, ein Loder zu werden.“

Wolf war indessen mit seinem Rundgange zu Ende gekommen und schüttelte die Münzen auf dem Teller, mit dessen Ertrag er nicht eben sehr zufrieden schien. „Hol’ mich der Teufel,“ rief er dazu, „Ihr seid mir einmal eine knickerige Sippschaft! Ist das Alles, was ich mir verdient hab’? Da muß ich Euch schon zeigen, daß ich wenigstens selber etwas halte auf mich …“ Er griff in die Tasche, warf eine Handvoll Geld zu dem Gesammelten und schüttete Alles der Harfenistin, neben die er sich wie unabsichtlich hingestellt hatte, in den Schooß. „Da Mädel, nimm,“ rief er, „für Dich hab’ ich’s gesammelt, damit Du nicht zu kurz kommst wegen einer solchen Spielerei, wie die meinige ist – nimm und thu’ Dir auch einmal einen guten Tag auf mit Deinen traurigen Augen!“

Rasch machte er sich los von dem Danke des überraschten Mädchens und ihrer Gefährten, die nun, plötzlich umgestimmt, sich in Lobeserhebungen über Wolf’s meisterliches Citherspiel ergingen – wenn er diese Kunst benützen wollte, so könnte er darauf reisen, sagten sie, und so viel Geld verdienen, um mit Vieren zu fahren. Sie spielten noch eins ihrer besten Stücke zum Abschied und eilten dann ihrer Herberge zu, denn die Reihen der Gäste hatten sich immer mehr gelichtet und auch die Letzten folgten ihnen bald; hatte doch das Kellervergnügen diesen Abend über alle Gebühr und Gewohnheit lange gedauert und sich genug ereignet, was sich auf dem Heimweg in der warmen hellen Mondnacht erst recht gründlich besprechen ließ.

Unmuthig und wortkarg war Wolf an seinen Platz zurückgekehrt; so sehr die Gesellen schürten und durch tolles Lärmen und Spaßen neuen Brennstoff herbeizutragen suchten, vermochten sie doch nicht, aus der niedergebrannten Gluth eine neu auflodernde Flamme hervorzulocken. Er war abgespannt und müde und ein in der letzten Aufregung noch genommener Trunk vollendete, was der Tag noch übrig gelassen – er breitete die Arme über den Tisch, legte den Kopf darauf und war wenige Augenblicke später in tiefen Schlaf versunken.

… Als er wieder erwachte, wehte ihm der Morgenwind kalt auf den Leib, und über den Bergen kam das Morgengrauen herauf, schön und gewaltig, wie es gestern gekommen war, und doch wie so ganz anders!

Er war allein; seine Cameraden hatten ihn verlassen und das seidene Preistuch mit den daran hängenden Guldenstücken mitgenommen; die leere Stange hatten sie als Andenken zurückgelassen – in der Ecke nebenan auf einer Bank lag das verdorbene Stadtkind in wüstem, todtenhaftem Schlaf … Wolf versuchte nicht, den jungen Mann zu wecken: er trug kein Verlangen, zu erfahren, warum und wie man ihn so allein zurückgelassen. Die eigene Erinnerung sagte ihm mehr als genug von den Ereignissen des gestrigen Tages.

Frostschauernd strich er zwischen den Saatfeldern und Stoppeläckern der unfern sich erhebenden Waldspitze zu – er wollte Niemand begegnen und von Niemand gesehen sein; unter den bergenden Bäumen angekommen, warf er sich krampfhaft schluchzend in’s Gras und wehrte den Thränen nicht, die ihm heiß und wie unerschöpflich über die Wangen stürzten. Scham, Reue, Zorn über sich selbst rangen um den Besitz seiner Seele. War es denn möglich, daß Alles das sich hatte ereignen können? Wie froh, wie frei hatte er gestern dem beginnenden Tage entgegengeblickt, und wie war er heute aus allen seinen Himmeln geschleudert! Was man ihm mit Unrecht schuld gegeben, hatte er nun wirklich gethan – den Namen, gegen den sein Stolz sich aufbäumte wie ein junges Füllen gegen den ersten Zügel, hatte er sich selbst auf die Stirn geschrieben, hatte einen Tag mit Gesindel zugebracht und sich selber zum Schauspiel müßiger Menschen gemacht! Und warum war das Alles geschehen? Nicht er hatte es so gewollt, der ungerechte Wille seines Vaters hatte ihn hinaus gestoßen, und der erste Schritt hatte ihn mit fortgerissen, wie das erste Steinchen, das sich lockert, die Schneelahn losmacht und in rasendem Wachsthum stürzen läßt. Eine Weile tobte er, nachdem die Thränen versiecht waren, seinen dafür aufsteigenden Grimm in Verwünschungen aus – dann, nach der Erschöpfung beider Ausbrüche, kam eine weichere ruhigere Stimmung über ihn und aus dem von den Stürmen gelockerten und befruchteten Erdreich sproßten die Keime klarer Besonnenheit und ruhigen Wollens.

Das Geläute der Kirchenglocken, die zum Frühgottesdienst riefen, suchte ihn im Walde auf und mahnte, daß es Zeit sei, mit sich in’s Reine zu kommen. Beruhigt erhob er sich, denn er hatte einen Entschluß gefaßt: er wollte zu seinem Vater gehen, ein offenes Wort reden und seinen Frieden machen mit ihm; er hätte sich sogleich auf den Weg gemacht, aber er wußte, daß er ihn, weil es Feiertag war, nicht zu Hause treffen würde; der alte Lindhamer unterließ es an solchen Tagen nie, in die Kirche des Nachbardorfes zum Gottesdienste hinüber zu wandern, wenn es auch ein ziemlich weiter Weg war. Von dort kam er erst zum Mittagessen zurück, nach diesem wollte Wolf mit ihm reden; das war so ganz die rechte Stunde dazu, wenn alle Bewohner des Hofes ausgeflogen waren und über dem Hofe und seiner Umgebung die feierliche Ruhe und Stille des Sonntags lag, wie über einer großen Kirche. Er wollte es daher so einrichten, daß er gerade um diese Zeit auf Lindham eintreffen mußte – erleichterten Gemüths, von seinen Vorsätzen wie von Flügeln getragen, schritt er nun in den Tag und das Menschengewühl hinein, das bereits von allen Seiten zum Jahrmarkt herbeikam, der unmittelbar nach den Kirchenfeierlichkeiten beginnen sollte.

In der nämlichen Stunde, in der er seinen Plan aufbaute, rollte ein hübsches Schweizerwägelchen gegen Aibling heran, von ein paar kräftigen Braunen gezogen, welche mit dem leichten Gefährt so tüchtig ausgriffen, als ob es darauf ankäme, eine Wette zu gewinnen oder einem Flüchtling nachzujagen, der um jeden Preis eingeholt werden mußte – dennoch schien es dem Bauern, der in dem Fuhrwerk saß, noch immer nicht schnell genug zu gehen, denn von Zeit zu Zeit rief er dem neben ihm sitzenden Mädchen, das die Zügel führte, unwillig zu, sie solle doch die feisten Thiere besser auftreten lassen; die faulen Mähren hätten über der Feldarbeit das Laufen ganz verlernt und trabten daher wie mit einer Holzfuhre.

Es war der alte Lindhamer, Th’res neben ihm.

Zum ersten Male in seinem Leben war der Alte seiner Gewohnheit untreu geworden und hatte am Morgen seine Angehörigen mit dem Auftrage überrascht, man solle Alles vorbereiten, er wolle anstatt zur Kirche in’s Pfarrdorf nach Aibling auf den Jahrmarkt fahren. Er sagte nicht, warum er das that, aber es war nicht schwer, die Ursache zu errathen: – daß Wolf den ganzen Tag über nicht mehr heim kam, hatte ihn mit neuem Unmuth erfüllt, dessen Gewicht jede verrinnende Stunde um die Last ihrer Sandkörner vermehrte; noch als es bereits zu dunkeln begann, saß er ganz gegen seinen sonstigen Brauch vor der Hausthür auf der Gräd, ließ sich von Dickl noch einmal erzählen, was den Tag über Alles geschafft worden war, und wenn Th’res ihn erinnerte, daß es seiner Augen wegen wohl gerathen sein dürfte, sich nicht der Nachtluft auszusetzen, so erwiderte er, sie solle ihn in Ruhe lassen; er begreife gar nicht, was sie wolle, die Luft sei ja so mild wie Balsam und habe ihm lange nicht so wohlgethan wie heute. Als er gleichwohl nicht mehr anders konnte und sich zur Ruhe begeben mußte, blieb er noch lange wach, und Th’res, die in einer Kammer nebenan lag, hörte, wie er ein paar Mal in der Nacht aufstand und das Fenster öffnete; auch in ihre Augen kam kein Schlaf, und wenn er auch den ganzen Abend Wolf’s nicht mit einer Silbe erwähnt hatte und seine Abwesenheit gar nicht zu bewerten schien, so erzählte ihr doch das eigene Herz deutlich genug, was den Alten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_400.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)