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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


die Stellung eine regelrechte, dort Schwalbennestern gleich unter dem Dache, hier große helle Scheiben, dort vor Alter in allen Regenbogenfarben prangend. Und das ist des Hauses stattlichstes Bild! Die nach dem Hofe hingekehrte Südfronte ist ein wahres Chaos von Ursprünglichkeit und jüngerem Flickwerke mit schrägen Kammern und Fenstern aus unzähligen runden bleigefaßten Scheiben, an denen wir Geschwister, beiläufig bemerkt, Gelegenheit hatten, das Gesetz des Brennspiegels im verjüngtem Maßstabe zu studiren.

Aber, wie gesagt, glückliche Menschen barg das Pfarrhaus trotz seines lückenhaften Strohdaches, das der Sonne wie dem Regen freien Einzug gestattete. Vielleicht lebt der Herr Cantor P. noch, der einst, auf dem Heimwege nach seinem Dörfchen von einem heftigen Gewitter überrascht, ein willkommenes Nachtquartier bei uns fand. Ich glaube, der arme Mann hat in jener Nacht wenig geschlafen; wenigstens kam unsere Magd, der das Reinigen der Zimmer oblag, mit der überraschenden Kunde zurück: „Frau Pastern, da oben schwimmt Allens, un dat ganze Bedde is ok natt worrn.“

Das spitzige hohe Strohdach überragte zwei Böden; das hinderte aber keineswegs, daß bei heftigen Regengüssen auch im Erdgeschosse die Wasserspuren sichtbar wurden, zum höchsten Jubel für uns Kinder, denen das Tröpfeln von der Decke auf die Schulbücher, oder gelegentlich in die Suppenschüssel zu Mittag, nur eine lustige Unterbrechung des dörflichen Alltagslebens bot.

Einige der inneren Räume des alten Pfarrhauses stehen noch ganz besonders vor meiner Seele. Da ist eine große dreifenstrige Stube des oberen Geschosses, das eine Fenster, auf der Zeichnung nicht sichtbar, im östlichen Giebel, die beiden anderen, wie unser Bildchen zeigt, dicht unter dem Dache. Dies war der geräumigen Pfarre freundlichster Raum; darum hatten meine Eltern ihn als Wohnstube eingerichtet. Von hier aus gab es durch das Giebelfenster eine hübsche Aussicht nach dem Landstädtchen Barby, das eine kleine Stunde, und nach einer Windmühle, die eine Viertelstunde entfernt lag. Sie brannte in einer stillen Nacht ab, ein unverwischbares Schauerbild der Erinnerung.

Treuer noch als die Wohnstube haftet das darunter gelegene große Zimmer in meinem Gedächtniß.

In diesem Zimmer, also im Erdgeschoß, mit seinen zwei nach der Straße gehenden Fenstern, studirte mein Vater, hier gab er den Confirmandenunterricht, hier hielt er mit den verheiratheten Männern des Dorfes Abendversammlungen und übte mit Hülfe seines Cantors den jungen Burschen des Dorfes die schweren und weniger gangbaren Kirchenmelodien ein; hier fanden auch die von ihm selbst im Ausgange der dreißiger Jahre in’s Leben gerufenen Lehrerversammlungen statt.

Ich sagte eben: hier studirte mein Vater. Wollte er aber von allem Außenleben unberührt bleiben, dann zog er sich in ein kleines dahinter gelegenes Stübchen zurück, in dem ein unansehnliches fichtenes, einfach braun gebeiztes Stehpult, das noch aus seiner späteren Schulzeit stammte, seine sauber geschriebenen Schulhefte, seine studentischen Arbeiten nebst den niedergeschriebenen Predigten barg. In diesem Zimmer durften wir meinen Vater niemals stören; sämmtliche Hausbewohner kannten und respectirten denn auch dieses Gebot gewissenhaft.

Alles in Allem gerechnet war die Zeit unter dem moosigen Strohdache, für uns Geschwister wenigstens, die köstlichste unseres Lebens. Das Haus galt auch in Pömmelte für ein solches, unter dessen Dache sich angenehme Stunden verleben ließen. Darum sahen wir oft Gäste bei uns, die sich aus der Altersschwäche des Hauses nichts zu machen schienen. Man spöttelte über das lückenhafte Strohdach und saß wohlgemuth unter seinem Schutze. Desto mehr rühmte man unsern Keller, in dem sich die Milch so gut erhielt und in dem die Butter so köstlich frisch blieb. Von den Mäusen, die zuweilen in die Milch fielen, oder die sich in einem Brode eingenistet hatten, bekamen die Gäste nichts zu sehen.

Von Anbeginn seiner Amtsthätigkeit hatte mein Vater sich die persönliche Theilnahme am Schulunterricht vorbehalten; auch war es ihm Herzenssache, mit den Schullehrern der Umgegend in lebendigem Verkehr zu sein; daher rief er zu Ende der dreißiger Jahre die Schullehrerconferenzen in’s Leben, die in Pausen von halben Monaten Sonnabends bei uns stattfanden. Aus der stets wachsenden Theilnahme, der sich diese Conferenzen erfreuten, läßt sich am besten schließen, wie gern man kam. Bedenkt man die oft grundlosen Verbindungswege auf dem platten Lande in schlimmer Jahreszeit, die doch nicht vom Besuch der Versammlungen abschrecken konnten, so ist das gewiß ein Beweis von der Wichtigkeit, die von den Lehrern selbst diesen Zusammenkünften beigemessen wurde. Es versteht sich von selbst, daß mein Vater auch bedacht war, die Lehrer mit guter Lectüre zu versorgen, und gewiß giebt es heute noch manchen Schullehrer, der sich freudig seines früheren Zusammenwirkens mit Uhlich erinnert.[1]

In den Ausgang der dreißiger Jahre fällt die Gründung des „Gustav-Adolf-Vereins“. Mein Vater wurde Mitglied desselben, und das brachte viel Leben in unser Haus. Ueberall schloß man sich dem Vereine an; bald gehörten alle Freunde des Uhlich’schen Hauses dazu. Für die größeren Versammlungen, die bald hier, bald dort stattfanden, wählten die umliegenden Ortschaften meinen Vater als Deputirten. Die erste derartige Versammlung trat in Halle zusammen, dann folgte eine andere in Berlin, darauf in Göttingen etc. Viele bedeutende Männer, deren persönliche Bekanntschaft zu machen früher meinem Vater nicht vergönnt gewesen, verkehrten jetzt in unserm Hause. Auch der Briefwechsel wurde ein so lebhafter, daß die alte Botengängerin des Dorfes, von Alt und Jung „Annemarieke“ genannt, einmal meinte: „Wenn ick dat Alles lesen müßt, denn würr ick dumm in mienen Kopp!“

Die Regierung sah scheel zu dieser Bewegung, doch geschah nichts, sie zu unterdrücken. Aber das Jahr 1840 kam und mit ihm eine ernste Wendung der Dinge. War bisher das Leben in Pömmelte im Ganzen ein ruhig dahinfließendes gewesen, so sollten nun über das Strohdach des alten Pfarrhauses auch einmal Stürme hinbrausen, denn von jetzt an gewann es jene Bedeutung, die allein den Versuch rechtfertigen kann, die Blicke der Gartenlauben-Leser auf dasselbe hinzulenken.

Die Partei, die in Sachen der Kirche „Zurück“ als Losungswort ausrief, gewann die Oberhand. Von allen Kirchen des Landes klang Todesgeläut, denn Friedrich Wilhelm der Dritte hatte die Augen geschlossen. „Was wird nun werden?“ fragte man. Die Antwort ließ nicht lange warten. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten kam Eichhorn und das neue Kirchenregiment. Von nun an wurde der Pietismus maßgebend. Der Rationalismus wurde verdächtigt, angefeindet, gemaßregelt. Wer aber hätte ahnen können, daß das Erscheinen eines Bildes eine Brandfackel in die Gemüther zu schleudern vermöchte? Und doch geschah es. Das Bild hatte einen frommen Gegenstand zum Vorwurf. Eine betende Bauernfamilie, darunter eine blinde Mutter, liegt auf den Knieen vor einem Muttergottesbilde mit dem Jesusknaben. Also ein katholisches Bild? – Mit Nichten, lieber Leser. Ein Gedicht in der „Magdeburgischen Zeitung“ brachte die überraschende Erläuterung, daß das Anbeten des Jesusknaben auf den Mutterarmen auch nach evangelischer Auffassung wohlberechtigt sei, indem dieser, die zweite Person der Dreieinigkeit, hier die Vermittlerrolle gespielt, denn auf seine Fürbitte sei die Blinde genesen.

Sintenis, Prediger an der Heiligen Geistkirche in Magdeburg, antwortete auf dieses Gedicht in einer spätern Nummer desselben Blattes in derber und schonungsloser Weise. Er sprach das famose Wort: „Sie wollen sogar unsern Herrgott auf das Altentheil setzen.“ Diesen Ausspruch, dem ich zwar in den vielen aus jener Zeit stammenden Flugblättern nicht begegnet bin, schreibe ich doch unbedenklich nieder, da mein Vater, der in seinen Behauptungen äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen pflegte, sich in seinem letzten Werke, „Leberecht Uhlich, sein Leben von ihm selbst beschrieben“ (Gera, bei Paul Strebel, 1872), Seite 28, selbst darauf bezieht. Das Consistorium, voran Bischof Dräseke, forderte Widerruf seines Ausspruches und drohete bei seiner Weigerung mit Amtsentsetzung. Er aber, eine ehrliche, unerschrockene Natur, widerrief nicht, zumal da seine Gemeinde wie Ein Mann für ihn einstand. Es gab nun einen heftigen polemischen

  1. Wie sehr gerade die Volksschule bis in seine letzten Lebensjahre meinem Vater am Herzen gelegen, zeigen die beiden bei Paul Strebel in Gera erschienenen Broschüren: „Die Volksschule, 16 Sätze mit Erläuterungen“ (1868) und „Die freie menschliche Schule, ein Versuch“ (1870).
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_363.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)