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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


der Pietismus geht tiefer ein. Meine Mutter hatte die Kraft, die Sicherheit und den ganzen Trost ihres Innenlebens in einem lebendigen Glauben an Christi Gottheit, an seine himmlische Sendung und persönlichste Theilnahme für jeden durch ihn Erlösten, und da sie zu mir eine ganz unbegrenzte Liebe hegte, vermochte sie den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich des gleichen Heiles entbehren sollte. Nicht in ihrem Sinne Christ sein, das war für sie schon der Weg des Verderbens. Daß ich redlich und jedem Gebote gehorsam, ohne Lüge, Tücke und Eigennutz mich entwickelte, war ihr nicht genug; auch der Weg, auf dem man zur Tugend emporstrebt, mußte der ihrige sein, und sie war viel zu leidenschaftlich, um bei dem begonnenen religiösen Gährungsprocesse in mir das Ende in Ergebenheit abzuwarten. Mit ihren Gebeten bestürmte sie den Himmel, und mit ihren Ermahnungen und Wehklagen bestürmte sie leider mich. Nun kannte ich auf Erden kein Wesen, das ich auch nur annähernd meiner Mutter in Liebe und Verehrung gleichstellte; denn sie war überhaupt die Einzige, die zärtlich gegen mich war, und dadurch entfesselte sie mein liebeflammendes Herz zu gleicher Zärtlichkeit und Inbrunst. Hier entstand für mich die erste wahrhaft anspannende und folternde Prüfung. Was sind weltlicher Gewinn und Verlust einer männlichen Ueberzeugung gegenüber? Nur der Weichling wird von ihnen bestochen. Aber einem heißgeliebten Wesen wehe thun mit seinem Bekenntniß, das kann wohl ein junges Gemüth irre machen.

Die arme Mutter war kränklich; schon entwickelte sich in ihr die Schwindsucht mit der erhöhten Erregbarkeit, welche dieser unheimlichen Krankheit eigen ist, und sie wußte ihren frühen Tod voraus. Ihre Nerven waren von Jugend auf leicht gereizt, und starke Gemüthserschütterungen versetzten sie in einen furchtbar anzusehenden, schwer zu ertragenden Zustand. Die traurige Erleichterung der Nervenzuckungen im Augenblicke des ausbrechenden, lange verhaltenen Schmerzgefühls hatte sie auch auf mich vererbt; ich litt daran bis zur Mannesreife. Nun konnte es wohl geschehen, daß ich bei ihr im friedlichsten Gespräche saß. Unmerklich lenkten wir auf’s Religiöse ein; ich fühlte ihr an, wie ihr Inneres glühte und fieberte, allein vergebens suchte ich dann noch auszuweichen. Sie drängte mich auf einen Punkt, wo ich nicht mehr mich zurückziehen konnte; ich stritt liebevoll mit Gründen gegen ihre Bibelstellen und Betheuerungen, und der Forderung des Glaubens trat endlich das schmerzvolle Bekenntniß der Unmöglichkeit entgegen. Ich wußte, was kam, und nie habe ich solch ein Gespräch gewünscht oder gesucht; aber was mir Wahrheit war, das zu verleugnen haben auch Mutterthränen mich nicht bewegt, und mit fünfzehn Jahren bin ich für den Zweifel in schrecklicheren Qualen Märtyrer geworden, als der Scheiterhaufen sie den Bekennern des Glaubens anthat, denn nun brach das Uebel in dem heißgeliebten kranken Körper hervor; ich durfte sie nicht einmal pflegen, denn mein Anblick entzündete ihren Schmerz stets von Neuem, und mehrere Tage hindurch ging sie dann wie gebrochen umher. Dann schlich ich thränenlos, aber innerlich wie von Mühlsteinen zermahlen in den Baumgarten hinab, warf mich auf den Boden und drückte mein Angesicht gegen die Erde, bis die Ruhe und ewige Ordnung der Natur auch meinen Sturm wieder stillte; ja einmal war ich so rasend vor Schmerz und Seelenkrampf, daß ich in einem Haselbusche fingerdicke Aeste wie eine wilde Bestie entzweibiß. In diesen Stunden habe ich die Feuerprobe der Wahrheitstreue bestanden, und weder der Zorn einer Facultät noch der von ihm mir decretirte Hunger haben später mich dazu gebracht, auch nur einen Schritt weit vom Wege der wissenschaftlichen Ueberzeugung abzuweichen. An dieser Gesinnung wird wohl auch jeder Versuch scheitern, mir irgend einmal die Rolle eines Galilei aufzudrängen.

Welch ein schauderhafter Gehorsamszwang in unserem Hause über mich geübt worden ist, davon will ich noch ein Beispiel anführen. Mein älterer Halbbruder Karl hatte, wie ich oben erzählte, beim Kataster gestanden. Als diese Arbeit aufhörte, konnte er in den Staatsdienst als Postbeamter eintreten und so ein anständiges und lebenslängliches Unterkommen gewinnen. Allein dazu hatte er eine Caution von fünfhundert Thalern nöthig, und das meldete er brieflich den Eltern. Er bat nicht um Vorstreckung dieser Summe; er meldete blos, daß sie von ihm verlangt werde. Meine Mutter hatte fast nichts in die Ehe mitgebracht, sondern aus dem hinterbliebenen Vermögen von Karl’s Mutter uns größtentheils erzogen; aber wenn das auch nicht gewesen wäre, dem Stiefsohn war sie ja unbedingt schuldig, auch aus ihrem eigenen Vermögen mit dem mäßigen Opfer von ein paar hundert Thalern seine Existenz zu sichern. Allein so weit verpflichtete ihre Gottseligkeit sie nicht; sie beschloß die Caution zu verweigern. Als Stiefmutter mochte sie nun nicht gerne selbst dem Betheiligten dies erklären, und meinen Vater konnte sie wohl zu einer solchen Härte gegen sein erstgebornes Kind auch nicht bringen. Meine Schwester, die sonst stets die rechte Hand der Mutter war, schlängelte sich klüglich an diesem bittern Kraut vorüber, und so zwang die Mutter mich, das jüngste Kind, zu diesem unbrüderlichen Briefe. Vergebens meine Vorstellungen, daß jene Summe ja dem Bruder gebühre, vergebens mein Flehen, wenigstens mich von jener Maßregel unbefleckt zu lassen; man verlangte stummen Gehorsam, und so mußte ich mit blutendem Herzen an Karl die harten Worte schreiben: die Eltern erwarteten, daß er doch endlich sich selbst so viel werde erworben haben, um selber die Caution beibringen zu können! Mit welch verbittertem Gefühl muß der damals wohl schon dreißigjährige Mann diese Zeilen aus der Hand eines unreifen Knaben gelesen haben, der noch nie für sein eigen Brodverdienst eine Hand angelegt hatte! Wie altklug und widerwärtig mußte das Lieblingskind der Stiefmutter ihm erscheinen, wie haltlos jedes brüderliche Verhältniß für alle Zukunft zerstört werden! Wirklich betrat auch Karl seitdem lange Jahre unser Haus nicht mehr und begnügte sich, als officielle Respectserklärung regelmäßig einen kühlen Glückwunsch zum Neujahr an die Eltern abzusenden.

Mein letztes Schuljahr war da. Es herrschte damals an den Gymnasien noch der Gebrauch, vom Schlußexamen Nummern zu ertheilen. Man hat ihn später aufgegeben, weil man einsah, daß in dieser Uebergangszeit des Knaben zur Jünglingsreife es bedenklich sei, den Ehrgeiz zu allzu gespannten Arbeiten zu stacheln. In der That war das Streben nach Nummer Eins ein ganz unglaublicher Sporn, und da ich diese Nummer haben wollte, begann ich mit unerhörtem Fleiße zu studiren. Meine Sonntagsgänge nach Hause gab ich fast ganz auf. Außer den Schulstunden und der Vorbereitung auf sie wurde eifrigst die Privatlectüre betrieben. Regelmäßig eine Stunde nach Schluß der Schule fand ich mich im Hause meines Mitschülers Hermann Velten ein, um mit ihm und noch einem Schulgenossen Classiker zu studiren. Velten war ein lebhafter Mensch von vielem Talent, der besonders in lateinischer Prosa sich auszeichnete, wie denn sein Lieblingsschriftsteller immer Cicero blieb. Außerdem trieb er schon damals das Englische, dem er zum großen Theil seine geachtete Stellung als Arzt bei den Bädern von Aachen verdankt. Der ganze Homer und die Oden von Horaz, so wie mehrere Schriften von Cicero wurden in diesen Abendstunden durchgenommen, und dann begann man oft noch zu Hause bis in die späte Nacht geschichtliche Werke zu lesen.

Mit einem andern mir wegen seiner jovialen Laune sehr lieben Mitschüler, Hubert Eiler, hatte ich schon früher große Stücke aus Herodot durchgemacht; dieser Erzvater der vernünftigen Geschichtschreibung sagte meiner Geistesrichtung ungemein zu. Um aber auch in anderem Sinne gerüstet die Hallen der Akademie betreten zu können, nahmen die Oberprimaner im letzten Sommer bei dem Universitätsfechtmeister eine gemeinsame Lehrstunde im Rappier. Hierin kam ich anfangs schlecht vorwärts; ich war erst fünfzehn Jahr alt, und da ich sehr stark und schlank aufschoß, verbrauchte die Natur alle Kraft auf’s Wachsen. Meine Armmuskeln waren noch zu schwach und ermüdeten rasch; die regelrechte Tiefquart habe ich erst viel später losbekommen.

Die Examenzeit kam heran, und zuerst wurden unter Clausur die schriftlichen Arbeiten angefertigt. Bei diesen entsteht ein Kampf des Scharfsinns zwischen Lehrern und Schülern. Stets giebt es unter den letzteren Einige, die sich wenigstens in einzelnen Fächern schwach fühlen und folglich fremder Hülfe vertrauen. Die Lehrer suchen dies pflichtmäßig zu verhindern und bieten Alles auf, um jeden Unterschleif zu entdecken; die Schüler aber sinnen immer neue Wege aus, und diese Wege sind oft so unerhört, daß die List dennoch gelingt. Das Thema der Arbeit wird erst mitgetheilt, wenn die Arbeit selbst beginnen soll, und dann ist es mehrere Stunden lang verboten, den Schulsaal zu verlassen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_210.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)