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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Meine Schuljahre.
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
IV.


Auch mit jungen Männern belebte sich etwa ein Jahr später unser Haus, freilich durch eine traurige Veranlassung. Mein Vater, bereits ein Siebenziger, verfiel in eine langwierige Krankheit, welche ihn einen ganzen Winter an’s Zimmer fesselte und dem Tode so nahe brachte, daß er schon sein Testament anfertigen ließ. Nun galt es, für seine Vertretung auf der Kanzel zu sorgen, und da kein Pfarrer in der Nähe wohnte, mußte die nahe Universitätsstadt mit Studenten und Candidaten der Theologie aushelfen. Regelmäßig am Nachmittag des Sonnabends fand sich also ein junger Mann im Pfarrhause ein, und zwar jedesmal ein Anderer. Mutter und Schwester sorgten für die Gastfreundschaft, denn es versteht sich in diesem Verhältnisse von selbst, daß der Stellvertreter auch Gast des Hauses ist.

Mancher Jüngling hielt so seine erste Predigt bei uns, und es war wirklich anziehend, jeden Sonntag einen neuen Redner zu hören, unter denen doch auch manche recht begabte Talente sich fanden. Aber auch die jungen Männer kamen gern zu uns; die Gemeinde war so klein, daß die Zuhörerzahl den Anfänger nicht schreckte, die Kirche so nett und sauber wie eine große Wohnstube. Die Bewirthung bei uns war reichlich genug, um sich im Hause behaglich zu fühlen, und doch auch wieder so einfach, daß der Gast sah, er beschwere uns nicht; brachte er selbst einen Freund mit, so fand auch dieser ohne Umstände eine herzliche Aufnahme. Die außerordentliche Belesenheit meiner Mutter in der Bibel und in anderen religiösen Schriften, namentlich aber ihre unerschütterliche Bestimmtheit im Glauben und in allen Grundsätzen, konnten auch einem wohlstudirten Theologen imponiren. Besonders heiter war die Mittagstafel am Sonntag, wenn die Predigtangst nun vorüber und der angehende Amtsbruder im Hause schon etwas heimisch war.

Mein Vater besserte sich im Frühling so sehr, daß er bei Tische wieder mit erschien. Er hatte an dem aufwachsenden Geschlechte Freude und holte aus den Schubfächern seiner Schulgelehrsamkeit manchen lateinischen Spruch und Witz heraus, mit denen er die jungen Leute neckte und erheiterte. Am Nachmittage machte man mit dem Gaste einen Spaziergang oder auch eine kleinere Partie an einen Vergnügungsort, und oft rüstete sich derselbe erst spät Abends zur Heimkehr nach Bonn, wohin ich ihm dann meistens Gesellschaft leistete. Auch nach des Vaters Wiedereintritt in’s Amt hörte diese Sitte der Candidatenpredigten bei uns nicht mehr völlig auf.

In diese ländliche Idylle, die wirklich Vossens „Louise“ wiederspiegelte, trat denn bald auch die Neigung hinein. An einem Sonntag-Morgen machte meine Schwester der Mutter die sonderbare Anzeige, der heutige Candidat müsse von feiner Erziehung sein, denn so oft er aus dem Hause auch nur in den Garten trete, ziehe er sofort Handschuhe an. Dieser junge Mann kam häufig wieder; er war ein getaufter Jude aus Westphalen, und da er auf den Wegen der Frommen wandelte, hielt auch meine Mutter ihn besonders hoch. Zwischen ihm und meiner Schwester entstand ein Herzensverhältniß, das mich bei der letzteren in die zweite Reihe stellte; übrigens mochte ich ihn recht wohl leiden, obwohl er oft anmaßend über unsere Dichter aburtheilte, wenn sie ihm nicht gottselig oder moralisch genug erschienen.

So hätte denn das Vaterhaus mir noch einmal ein reines Glück bieten können, wäre nicht unablässig der religiöse Zwang dazugetreten, der schon mein Kindesleben so oft verdüstert hatte. Die erweiterte Weltkenntniß, die mir aus dem Gymnasialunterricht und den großen Dichtern zuwuchs, vielleicht auch der Umgang mit einzelnen Studenten der Theologie und vor Allem mein eigenes Nachdenken machte mich zum Rationalisten. Der Knabenverstand will Alles recht faßlich haben, und so trat ich ungefähr auf den Standpunkt, auf welchem Muhamed seinen Islam aufbaute: Ein persönlicher Gott hatte die Welt geschaffen und bestimmte mit unabänderlichem Willen alle ihre und der Menschen Schicksale. Große Männer hatten ihn anerkannt und als seine Boten ihn verkündigt. Unter ihnen war Christus der bedeutendste, allein von Natur und Geburt ihm nicht näher als alle Uebrigen verwandt. Die Versöhnungs- und Begnadigungslehre widerstritt meinem herben Rechtsgefühl. Die evangelische Geschichte legte ich mir zurecht, wie die Rationalisten des vorigen Jahrhunderts es gethan haben: bald war etwas von den Schriftstellern verkehrt aufgefaßt, bald mußte man es anders als nach dem Wortsinne auslegen. Glücklicher Weise stand ich auf dieser Ansicht noch nicht, als ich durch meinen Vater zur Confirmation vorbereitet wurde, denn sonst hätte ich als vierzehnjähriger Junge auf die Frage „Glaubst Du das?“ in offener Kirche mit „Nein!“ geantwortet und weder vor dem Scandal noch der Strafe mich gefürchtet. Nur einen Glaubenssatz des Katechismus ertrug ich schon damals nicht; es war die furchtbare Lehre von der Vorherbestimmung, wonach einzelne Menschen von Ewigkeit her zur Seligkeit erwählt, die übrigen verworfen sind. Dieser Satz des finstern Calvin hat geschichtlich seine große Bedeutung gehabt; er gab den französischen Cevennenkämpfern, den holländischen Geusen und den englischen Independenten jenen unwiderstehlichen Schicksalsglauben, mit dem auch Muhamed’s Araber in den Schlachtentod stürzten. Ihre Feinde waren ja von ihrer Geburt an Kinder Belial’s, sie aber die Streiter Gottes, und das wetzte ihrem Republikanerschwerte die schärfste Schneide. Allein jene Zeiten des Kampfes waren vorüber, und ich wollte die menschliche Freiheit des Willens auch einem göttlichen Rathschlusse nicht mehr aufopfern. Demnach erklärte ich der Mutter, daß ich die Einsegnung nicht annehmen würde, wenn der Vater uns auf diesen Satz verpflichte. Sie hat denn, weil sie auch selbst hierin mehr lutherisch dachte, den Vater bewogen, das ganze Capitel bei der Confirmationsprüfung wegzulassen.

Tausend junge Leute verschwören sich in diesem Alter auf Lehrsätze, die sie entweder nie durchdacht haben oder im Herzen verwerfen; für diesen Zwang rächen sie sich nachher durch Frivolität. Mir lag Beides fern; es ist gute deutsche Art, im Religiösen unbiegsam zu sein. So kaufte ich mich mit dem Vater ab, denn er war blos orthodox; aber einem viel härteren Zusammenstoße mit der Mutter konnte ich später nicht entgehen denn sie war eine Pietistin.

Vielleicht wundert man sich, daß ich zwischen streng kirchlicher Gläubigkeit und Pietismus noch einen Unterschied mache, da Beides jetzt stets vereint vorkommt. In der That hat es aber eine Zeit gegeben, wo beide Richtungen sich todfeindlich gegenüberstanden. Als der Pietismus im Beginn des vorigen Jahrhunderts zuerst auftrat, fand er eine erstorbene Rechtgläubigkeit vor, die mit Gedächtnißwissen und Mundbekenntniß sich begnügte. Er dagegen forderte, daß der ganze innere Mensch von der Religion ergriffen werde, und legte daher auf die Erweckung des Gemüthslebens den stärksten Nachdruck. Ob Jemand in allen Artikeln das richtige System habe, das erklärte er für minder wichtig; aber ob man Christi Geist im Glauben sich aneigne und im praktischen Leben sein Gebot erfülle, das galt ihm als das Entscheidende. Aus seinem Schooße gingen Bücher hervor, die den Beweis aufzustellen suchten, daß die von der Kirche verworfenen Ketzer dem Herzen Jesu weit näher gestanden haben als die kirchlichen Lehrer selbst. Der Pietismus hatte folglich ein Aufklärungselement in sich, und wirklich kämpfte Hand in Hand mit ihm der große Thomasius in Halle gegen den Hexenaberglauben.

Nun waltet aber in aller geschichtlichen Entwickelung das Gesetz, daß gegen eine neu und siegreich auftretende Wahrheit alle die absterbenden älteren Richtungen sich verbünden und ihre alten Feindschaften vergessen, wie nach dem Evangelium durch Christi Verurtheilung Herodes und Pilatus Freunde geworden sind. Um den unwiderstehlich hereinbrechenden Pantheismus zu dämmen, haben in unseren Tagen die langjährigen Feinde Orthodoxie und Pietismus sich die Hand gereicht, so wie auch der lange Hader zwischen weltlicher Monarchie und Priestereinfluß im Kampfe gegen uns verschwunden ist. Mit der bloßen Orthodoxie kann, wer Lust hat, bequem sich abfinden; allein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_209.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)