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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

mehr, je tiefer sie in die grüne Wildniß eindrangen. Seine sonst so matten Augen späheten scharf nach dem gesuchten Wege umher. Der nasse, finstere Wald schien einen förmlich belebenden Einfluß auf ihn auszuüben, in so tiefen Zügen athmete er die herbe, harzige Tannenluft ein, so schnell führte er seine junge Frau unter den sausenden Wipfeln dahin. Plötzlich blieb er stehen und rief fast triumphirend aus: „Da ist der Weg!“

Sie sahen in der That einen schmalen Fußpfad vor sich, der quer durch den Wald lief und sich in einiger Entfernung zu senken schien. Eugenie schaute etwas verwundert darauf hin; sie hatte es ihrem Manne wirklich nicht zugetraut, daß er im Stande wäre, einen sicheren Führer abzugeben, und sich bereits vollständig auf’s Verirren gefaßt gemacht.

„Du scheinst sehr vertraut mit der Gegend!“ sagte sie, während sie an seiner Seite den Weg betrat.

Arthur lächelte, aber freilich galt dies Lächeln nicht ihr, sondern der Umgebung, die er jetzt forschend musterte.

„Ich werde doch meinen Wald noch kennen! Wir sind alte Freunde, wenn wir uns auch lange, sehr lange nicht gesehen haben.“

Eugenie hob verwundert das Haupt. Den Ton hatte sie noch nie aus seinem Munde gehört; es lag darin eine tief zurückgedrängte Empfindung, die sich gleichwohl in der Stimme verrieth.

„Liebst Du den Wald so sehr?“ fragte sie, unwillkürlich ein Gespräch fortsetzend, das sonst wahrscheinlich wieder in dem gewöhnlichen Stillschweigen sein Ende gefunden hätte. „Weshalb hast Du ihn denn während der ganzen vier Wochen nicht ein einziges Mal betreten?“

Arthur antwortete nicht. Sein Blick verlor sich wie träumend in den grünen nebelumschleierten Tiefen. „Weshalb?“ fragte er endlich düster, „ich weiß es nicht! Vielleicht war ich zu träge. Man verlernt ja zuletzt Alles in Eurer Residenz, sogar die Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit.“

„In Eurer Residenz? Ich dächte, Du wärest so gut wie ich dort erzogen.“

„Gewiß! Nur mit dem Unterschiede, daß mein Leben aufhörte, als meine sogenannte Erziehung anfing. Was überhaupt des Erlebens werth war, das ließ ich hinter mir, als ich in jenen Mauern einfuhr; denn lebenswerth waren nur meine frohen sonnigen Knabenjahre.“

Es war ein halb bitterer, halb grollender Ton, mit dem er die Worte hinwarf. Aber auch in Eugeniens Innerem quoll jetzt wieder die alte Bitterkeit heiß empor. Wie durfte er es wagen, von Aufgeben, von Entsagung zu sprechen? was wußte er überhaupt davon? Für sie freilich war mit der Kindheit auch das Glück zu Ende gewesen; für sie begann mit dem Eintritte in’s Leben die ganze Stufenleiter von Sorge, Demüthigung und Verzweiflung, die sie als Vertraute ihres Vaters, als Eingeweihte in die Verhältnisse ihrer Familie durchzumachen hatte, die bittere Schule, die wohl ihren Charakter gestählt, aber ihr auch alle Freuden der Jugend geraubt hatte. Wie war dagegen die Stellung ihres Gatten, wie seine Vergangenheit gewesen! Und er sprach davon wie von einem Unglück!

Arthur schien diese Gedanken auf ihrem Gesichte zu lesen, als er sich umwandte, um einen tief niederhängenden Zweig bei Seite zu schieben, der sie sonst gestreift hätte.

„Du meinst, ich hätte am wenigsten Grund, mich zu beklagen? Möglich! Wenigstens ist mir von jeher gesagt worden, daß mein Dasein ‚beneidenswerth‘ sei. Aber ich versichere Dir, es ist bisweilen verzweifelt öde und trostlos, solch ein Leben, wo das Glück Einem all’ seine Gaben vor die Füße schüttet, die man eben deshalb mit Füßen tritt, weil man nichts weiter mit ihnen anzufangen weiß, so öde und trostlos, daß man zuletzt um jeden Preis hinaus möchte aus dieser vielgepriesenen vergoldeten Glückseligkeit, hinaus – und wäre es auch in Sturm und Unwetter!“

Die dunkeln Augen Eugeniens hingen in sprachlosem Erstaunen an seinen Zügen. Urplötzlich ergoß sich eine helle Röthe über sein Gesicht. Er schien sich auf einmal zu besinnen, daß er sich des unverzeihlichen Fehlers schuldig gemacht, vor seiner Gattin irgend ein Gefühl zu verrathen. Der junge Mann runzelte die Stirn und warf einen grollenden Blick auf den Wald, der ihn zu diesem Ausbruch verleitet, aber schon in der nächsten Secunde fiel er völlig wieder in den alten blasirten Ton zurück.

„Sturm und Unwetter haben wir freilich mehr, als uns lieb ist!“ sagte er nachlässig und im Vorwärtsschreiten ihr völlig den Rücken zuwendend, „das tobt ja entsetzlich auf der freien Höhe da oben! Wir werden warten müssen, bis das ärgste Wehen vorüber ist; so können wir nicht hinunter.“

In der That überfiel sie beim Heraustreten aus dem Walde der Sturm mit einer solchen Gewalt, daß sie Mühe hatten, sich auf den Füßen zu halten. Es war augenblicklich unmöglich, aus dem Wege, der sich jetzt steil und offen in’s Thal hinabsenkte, weiter vorwärts zu kommen; man gerieth in Gefahr, von dem Winde erfaßt und in die Tiefe geschleudert zu werden. So blieb vorläufig nichts übrig, als hier im Schutze der Bäume zu warten, bis eine Pause in dem Toben der Lüfte eintrat.

Sie standen unter einer mächtigen Tanne, die am Saume des Waldes aufragte. Der Sturm wühlte in ihren grünen Armen, die sie schützend über ihre jüngeren Gefährten ausbreitete, und auch sie schwankte ächzend auf und nieder; aber der riesige weißgraue Stamm bot doch immerhin einen Halt und einen Schutz für Eugenie, die sich daran lehnte. Es wäre zur Noth dort Platz für zwei Personen gewesen, aber dann hätten sie sich eng aneinander drücken müssen, und diese Erwägung war es vermuthlich, die Arthur bestimmte, einige Schritte von ihr entfernt stehen zu bleiben, obgleich er dort nur sehr unvollkommen geschützt war, und die auf- und niederwehenden Zweige ihre beim letzten Regenschauer vollauf empfangene Nässe reichlich auf ihn niederschüttelten. Sein Haar flatterte im Wind, und die Tropfen rannen ihm von der unbedeckten Stirn nieder. Dennoch machte er nicht den geringsten Versuch, seinen Platz zu ändern.

„Willst Du – willst Du nicht lieber hierher kommen?“ fragte Eugenie zögernd, während sie sich seitwärts drückte, um ihm auf der einzigen trockenen Stelle etwas Raum zu geben.

„Ich danke! Ich möchte Dir mit meiner Nähe nicht beschwerlich fallen!“

„So nimm wenigstens den Mantel um!“ Es klang diesmal fast wie eine Bitte. „Du wirst ja völlig durchnäßt!“

„Durchaus nicht. Ich bin nicht so empfindlich gegen die Witterung, wie Du glaubst.“

Die junge Frau biß sich auf die Lippen. Es ist nicht angenehm, mit seiner eigenen Waffe geschlagen zu werden, aber noch weit mehr als dies reizte sie der Trotz, mit dem er Wind und Wetter über sich ergehen ließ, einzig um ihr eine Lehre zu geben. Sie fand freilich diesen Trotz unbeschreiblich lächerlich; sie litt doch wahrlich nicht darunter und ihr war es beinahe gleichgültig, ob er sich dadurch eine Erkältung, eine Krankheit zuzog, oder nicht, aber es reizte sie nun einmal, daß er so gelassen dastand und mitten im Sturm seinen Platz behauptete, vielleicht mit Anstrengung, aber doch behauptete, er, der eine halbe Stunde vorher noch schläfrig und fröstelnd in den Polstern des bequemen Wagens gelegen hatte und jeden Luftzug, der etwa durch die Glasfenster eindrang, peinlich zu empfinden schien. Brauchte er wirklich erst Sturm und Unwetter, um ihr zu zeigen, daß er doch nicht so ganz der Weichling war, für den sie ihn gehalten?

Arthur sah indessen nicht aus, als ob er ihr überhaupt irgend etwas zu zeigen beabsichtige; er schien im Augenblick ihre Nähe ganz vergessen zu haben. Mit verschränkten Armen stand er da und schaute auf das Waldgebirge, dessen größten Theil man von der Höhe hier übersah. Langsam schweifte sein Auge von einer Bergspitze zur anderen, und Eugenie machte dabei auf einmal die überraschende Entdeckung, daß ihr Gatte doch eigentlich sehr schöne Augen habe. Das überraschte sie in der That, sie hatte bisher nur gewußt, daß dort unter den halbverschleiernden Lidern etwas Müdes, Schläfriges ruhe, und sich nie die Mühe genommen, es weiter zu beachten. Wenn er einmal aufschaute, so geschah es ja stets so langsam, so träge, als koste ihm der Blick eine unendliche Mühe und sei doch nicht der Mühe werth; und doch war dieser Blick wohl werth, gesehen zu werden. Man hätte, nach dem Ausdrucke des Gesichtes zu urtheilen, unter den meist gesenkten Wimpern ein mattes kaltes Blau vermuthen sollen; statt dessen leuchtete dort ein klares, tiefes Braun, zwar auch noch matt, auch noch leblos, aber es schien doch, als könnten diese Augen einmal aufleuchten in Energie und Leidenschaft, als sei eine längst versunkene und vergessene Welt tief hinter diesem dunklen Blick gebannt und warte nur auf das erlösende Wort, um wieder heraufzusteigen aus der Tiefe. – In der jungen

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