Seite:Die Gartenlaube (1873) 045.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


aß das Dienstmädchen in demselben Zimmer mit, aber an einem Seitentische. Es wohnte auch noch die Mutter des Hausherrn bei ihm, ein altes Mütterchen, das den ganzen Tag spann und voll von prächtigem Hexen- und Zauberglauben war, der uns junges Volk oft zum Necken der Alten reizte. Die Hausmutter hatte immer nur Söhne geboren, die alle vier noch in der Familie waren. Der älteste war Mediciner, und demselben Berufe bestimmte sich auch der jüngste, der eben zur Universität reiste; von den beiden mittleren studirte Einer die Rechtswissenschaft, der Andere bereitete sich für den Stand des Vaters vor. Dem Juristen war ich zur Aufsicht übergeben und bewohnte mit ihm Eine Stube; als er später seine Studien vollendet hatte, übernahm der Jüngste denselben Beruf bei mir. Es herrschte in diesem Hause gar nichts von schwärmender oder besonders gefühlvoller Ausdrucksweise, aber dafür eine allgemeine Herzlichkeit und dabei unter den jungen Männern eine oft neckische Fröhlichkeit, so daß ich von dem Geistesdruck des Pfarrhauses mich sofort erleichtert fühlte und recht glückliche Jahre dort zugebracht habe.

In der Classe ging es mir anfangs schlimm. Ich kam wie ein ganz fremder Vogel unter die wilde Schaar, und da ich klein und schwächlich war, gab ich den Spielball für Alle ab. Auch betrug ich mich höchst lächerlich. Wenn der Lehrer eintrat, sagte ich ihm guten Tag, und ging er weg, rief ich ihm Adieu nach; das schien mir die Ehrerbietung zu verlangen. Da ich nie mit anderen Buben im Spiele geschrieen und gejubelt hatte, sprach ich Alles in einem singenden, weinerlichen Tone hin, als wenn ich eine Litanei betete. Auch wußte ich mein dem Standpunkte der Classe weit überlegenes Wissen anfangs gar nicht geltend zu machen, weil die Methode eine ganz andere als die meines Vaters war. So verbrachte ich ein paar recht trübe Wochen auf den untersten Schulbänken und konnte gar nicht begreifen, daß, wenn ich’s mit aller Sorgfalt recht gut zu machen suchte, meine Mitschüler lachten, meine Lehrer aber den Kopf schüttelten. Bald jedoch kam ich in Schuß und ging noch denselben Herbst, eben erst zehn Jahre alt, mit einem glänzenden Zeugnisse in die Tertia über.

Da ich Sonnabend Nachmittag und Sonntag frei hatte, verwandte ich sie stets, um nach Oberkassel zu wandern, wo ich jetzt sehr gern verweilte. Es ist von Bonn eine gute Stunde Weges. Anfangs ließen meine Eltern mich abholen, allein das war auf die Dauer nicht durchzuführen, und so gewöhnte ich mich an einsames Marschiren. Sonntags Abends fuhr ich meist beim Dorfe über den Strom und ging dann am linken Ufer durch die Dämmerung nach Bonn zurück. Diese Wanderungen hielten mich rüstig und weckten in mir den körperlichen Muth, der mir bis dahin sehr gefehlt hatte. Von den andern Knaben erlernte ich das Einfangen und Aufspannen der Schmetterlinge und legte mir in Oberkassel eine Sammlung an, die bald höchst vollständig wurde; auch auf das Ziehen der Abend- und Nachtfalter aus Raupen verlegte ich mich mit Eifer und Glück. Später lernte ich mit Genehmigung der Eltern von dem gräflichen Jäger die Behandlung des Schießgewehres und stopfte die Vögel, die ich schoß, selber aus. Endlich bat ich meine Eltern, daß sie mich eine Art Handwerk lernen ließen, damit ich wie die alten Rabbiner nöthigenfalls auch so mein Brod verdienen konnte. Das bewilligten sie gerne, und ich nahm während einer Vacanz Unterricht bei einem Bonner Buchbinder in Papparbeit, worin ich es damals zu recht zierlichen Leistungen gebracht habe. Das Vaterhaus war mir jetzt der liebste Ort, denn ich hatte nun Freiheit in ihm, und mein Vater selbst behandelte mich immer achtungsvoller, wie ich im Lauf der Jahre an Kenntnissen ihm etwas näher kam. Besonders aber die Mutter, die mich nun auf einen so guten Weg geleitet sich, umfaßte mich mit tiefster Innigkeit, wenn ich so am heißen Sommertage in Staub und Schweiß durch das sandige Feld zu ihr gewandert kam und nun unter das kühle Dach eintrat. Auch meine Schwester war sehr freundlich gegen mich, seit ich durch Körperkraft und Wissen sie überwog und mehr und mehr in das Verhältniß eines ritterlichen Beschützers zu ihr trat. In den ziemlich lang dauernden Herbstferien half ich fortwährend, wie früher, an allen ländlichen Arbeiten mit, und schloß mit mehreren Bauersöhnen meines Dorfes viel herzlichere Freundschaften, als mit meinen städtisch erzogenen Mitschülern. Mein Wesen wurde in der größeren jetzt mir gestatteten Freiheit kecker und frischer, und zu Zeiten ließ ich mit meinen Spießgesellen in Dorf und Feld auch wohl einen tollen Streich los, was denn meistens vertuscht wurde, oder doch straflos blieb.

Mein Schulleben nahm einen geregelten Lauf; in Tertia saß ich ein Jahr, in jeder der beiden oberen Classen, wie es Brauch auf dieser Schule war, zwei Jahre. Schon in der Tertia besserte sich das Betragen der Mitschüler gegen mich: sie merkten wohl, daß ich durch Kenntnisse ersetzte, was mir noch an Körperstärke abging, und da ich ihnen folglich nützen konnte, bewarben sie sich um meine Freundschaft. Auch ich legte meinerseits die lächerlichen Seiten mehr und mehr ab. Am schwersten überwand meine lebhafte Natur eine gewisse körperliche Unruhe, welche den Lehrern stets zum Aerger gereichte. Ich war wie Quecksilber, und wenn ich beim Unterricht nicht ganz scharf Acht gab, mußte ich immer etwas zu spielen, zu schnitzeln oder zu blättern haben, so daß ich den Schein der größten Unaufmerksamkeit auf mich lud. Nun brauchte ich in Tertia zu Hause fast gar nicht für die Schule zu arbeiten, weil ich alles dort Vorkommende bereits früher einmal gelernt hatte, und doch ging ich wieder mit einer glänzenden Censur zur Secunda auf. Da sollte mir aber in dieser Classe ein Unfall begegnen, der mich arg beschämte. An bequemes Arbeiten einmal gewöhnt, spannte ich auch jetzt, wo doch ganz neue Lehrgegenstände eine scharfe Anstrengung erfordern, meinen Fleiß nicht entsprechend an, und zu meinem jähen Schreck erhielt ich zu Ostern das schlechte Zeugniß Nummer Drei. Mit dumpfer Verzweiflung trug ich das verhängnißvolle Blatt nach Oberkassel zu meinem strengen Vater; allein die Mutter stimmte ihn mild, weil allerdings mein starkes Wachsen damals keine allzugroßen Anstrengungen vertrug. Ich nahm mich den folgenden Sommer zusammen, und mein Herbstzeugniß war besser; aber wollte man meine unruhige Art bestrafen oder mir noch einen schärferen Sporn in die Flanken setzen – zum zweiten Mal stand am Kopfe des Blattes das schreckliche „Drei“. Diesmal hatte ich es nicht verdient und ging darum ruhiger als das vorige Mal nach Hause. Und Vater und Mutter glaubten mir und straften mich nicht. Das war weise; denn nun erwachte mein Ehrgefühl zu voller Stärke, und nach sechs Monaten brachte ich eine Nummer Eins in’s Vaterhaus zurück. Von da an bin ich aus den hohen Nummern gar nicht mehr herausgekommen. Solches Nachlassen in Fleiß und Arbeitskraft habe ich später als Lehrer sonderbarer Weise gerade bei sehr tüchtigen Schülern einmal in ihrer Gymnasiallaufbahn eintreten sehen und dabei gefunden, daß man in einem Falle der Art die Natur am besten ruhig gehen läßt, ohne durch moralische Reizmittel auf eine plötzliche Besserung zu wirken. Es hängt dies einfach mit der körperlichen Entwickelung des Knaben zusammen, auf welche die Natur beim Uebergang zum Jüngling alle ihre Kraft verwendet. Ist das vorüber, so wirft sie von selbst den Trieb des Fortschrittes wieder auf das Gebiet des Geistes hinüber.

Das Bonner Gymnasium galt für eins der besten in der Rheinprovinz und verdiente wohl auch den Ruf. In der Regel gedeihen in Universitätsstädten solche Anstalten nicht, weil die Schüler sich frühzeitig an die Studenten hängen und die hohle Form des burschikosen Wesens nachahmen. Dadurch verfällt die Zucht, und ohne diese tritt Verfaulung ein. Bei uns war das nicht möglich, weil der Oberlehrer der Prima, Gymnasialprofessor Schopen, hier mit eiserner Consequenz den Riegel vorschob. Dieser Mann, der später zum Universitätsprofessor und Director des Gymnasiums aufstieg, war ohne Zweifel der gelehrteste und spannendste unter allen Lehrern, die wir hatten, und sein besonders den letzten Schuljahren zugewendeter Unterricht wirkte das Meiste dazu, daß im Abgangsexamen nur höchst selten ein Schüler der Anstalt durchfiel oder auch nur ungenügend bestand. Allein dies wurde oft genug dadurch erreicht, daß man in dem Schüler allzustark das Gefühl der Abhängigkeit erhielt, und das ging störend auch auf den Bereich der geistigen Entwicklung über. Mir ist geschehen, daß ich eine Zurechtweisung erhielt, weil ich in einer Vacanz den Vellejus Paterculus gelesen hatte. Es verdient doch Lob, wenn ein Schüler, der in dem Herkömmlichen seine Schuldigkeit thut, nun aus freiem Entschluß auch einmal ein Studium unternimmt, das außer der gewöhnlichen Bahn liegt, und mich als künftigen Culturhistoriker hatte ja mein Trieb ganz richtig auf jenen sonderbaren Lobredner eines Tiberius geführt; allein anstatt des Lobes mußte ich aus Schopen’s

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_045.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)