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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Pedanterei wird. Seine Vorsorge für das Wohl seiner Kinder – es blieb ihm von drei Söhnen nur der erstgeborene und die 1750 zur Welt gekommene Tochter Cornelia – nahm er so ernst und gewissenhaft wie alles andere. Er hat ihren frühesten Unterricht selber besorgt, den späteren geleitet. Augenscheinlich war auch ihm jener pädagogische Tik angeflogen, welcher in der Zeit, wo die Rousseau, Basedow, Salzmann und Campe pädagogisirten und phantasierten, so vielen Zeitgenossen eigen gewesen ist. Er hatte aber zum Erzieher nicht das Zeug, obzwar es irrthümlich und unrecht ist, ihm vorzuwerfen, er sei zu streng oder gar zu hart gegen seine Kinder gewesen. Seines Sohnes Jugendgeschichte, wie dieser selbst sie erzählt hat, beweist ja schlagend das Gegentheil. Der Dichter gestand auch zu, daß er vom Vater nicht nur „die Statur“, sondern auch „des Lebens ernstes Führen“ habe; aber im Uebrigen hat er demselben keineswegs volle Gerechtigkeit, geschweige Billigkeit widerfahren lassen. Die Natur will und heischt, daß die Söhne mehr den Müttern anhangen. Die Väter sind bekanntlich für die Herren Söhne zumeist nur da, um das Geld zu beschaffen zum Studiren oder auch zum Nichtstudiren, zum Schulden bezahlen, zum Heirathen etc. Glücklich der Vater, dem die Liebe einer Tochter Trost bietet für das Leid, welches Söhne ihm anthun. Goethe’s Freunde haben dessen Vater höchst ungerecht beurtheilt, wie denn, nachdem der wackere Herr im Mai von 1782 gestorben, der Herzog Karl August in seinem burschikosen Kraftstil an Merck schrieb: „Der Alte ist ja nun abgestrichen und Goethe’s Mutter kann endlich Luft schöpfen.“

Die Mutter Goethe’s hat sich fürwahr das „Luftschöpfen“ auch bei Lebzeiten des „Alten“ keineswegs verleiden oder gar nehmen lassen. Aber das ist richtig, die Katharina Elisabeth, die Frau „Aja“, wie sie im Freundeskreise ihres Sohnes hieß – (nach der Schwester Karl’s des Großen, der Mutter der Haimonskinder; aja, provençalisch aya, gleichbedeutend mit dem althochdeutschen eiga, das ist Besitzerin?) – ja, die Frau Aja war eben so sehr Poesie wie ihr Eheherr Prosa. Diese, die Prosa, ist in einem Haushalt nicht nur auch nöthig, sondern sie ist unumgänglich. Sie ist das Fundament, auf welchem Hauswesen und Familie, als das sehr Wirkliche, Ernstliche und Sorgenschwere, was sie sind, sich ausbauen müssen. Aber Heil dem Manne, in dessen Haus und Heim die Poesie in Gestalt einer Frau, wie Goethe’s Mutter eine gewesen, heitere Anmuth und anmuthige Heiterkeit bringt! Das ist ein Sonnenstrahl, welcher häusliches Gewölle, das ja nirgends ausbleibt, siegreich zertheilt und verscheucht. Unzählige Ehen werden rein nur darum zu unglücklichen, weil den Augen und Lippen der Frau jenes Lächeln abgeht, das die Unmuthsfalten, welche das „feindliche Leben“ auf des Mannes Stirne ansammelt, wegzuwischen vermag. Frauen, welche die köstliche Gabe besitzen, frohes Behagen um sich zu verbreiten und das bischen Leben schön und lieb zu gestalten, mögen dieselbe sorgsamst pflegen; denn das ist mehr als ein Talent, es ist geradezu eine Tugend.

Die Frau Aja hat unzweifelhaft etwas Geniales an und in sich. Der wesentlich idealistische Hang und Drang des achtzehnten Jahrhunderts ist in ihr mächtig gewesen. Es war Lyrik, Goethe’sche Lyrik in ihr. Ein kräftiger Hauch auch von Humor umwittert ihre ganze Erscheinung. Sie besaß jene „Frohnatur“, welche mitsammt der „Lust zu fabuliren“ von ihr überkommen zu haben der Sohn dankbar bekannte. Aus einem Kinde fast übergangslos zur Mutter geworden, wurde sie mit ihrem Wolfgang wieder zum Kinde, zur Spielgenossin, zur Camerädin ihres Jungen. – („Ich und mein Wolfgang,“ hat sie später einmal geäußert, „haben halt immer verträglich zusammengehalten; das machte, weil wir beide jung und nicht gar soweit wie der Wolfgang und sein Vater auseinander gewesen sind“). Die junge Frau mit dem liebebedürftigen Herzen hatte jetzt etwas, was sie lieben konnte, und sie hat den Sohn grenzenlos geliebt von seinem ersten bis zu ihrem letzten Athemzug, geliebt mit einer selbstlosen, großsinnigen Liebe, welche den Neid und die Eifersucht nicht kannte, sondern dem Sohne den reichen Schatz von Liebe, welchen Mädchen und Frauen ihm entgegengetragen, von ganzem Herzen gönnte. Deutschland und die Welt haben vollauf Ursache, der Mutter Goethe’s ehrfurchtsvollen Dank zu zollen. Was sie dem Sohne gewesen und gegeben, ist unberechenbar. Ueberall in seinen besten Vollbringungen stößt man auf die Spur von seiner Mutter und von ihrer Liebe zu ihm.

Bei allem Phantasiereichthum war sie nichts weniger als eine Phantastin. Sie wußte das Leben geschickt zu fassen und praktisch zu führen. Eine kluge, wissende, thätige Hausfrau, wie man sie nur wünschen mag, und dabei doch offenen Sinnes für alles Höhere und Höchste, voll genialer Anschauung und mutterwitzigen Verständnisses, immer wohlaufgelegt, allzeit hülfebereit mit Rath und That. „Ich thu’ alles gleich frisch von der Hand weg“ – schrieb sie einmal – „das Unangenehme immer zuerst, und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rathe des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lange zu begucken. Liegt dann alles wieder in den alten Falten, ist alles Unebene wieder glatt, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“ Und ein andermal: „Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden. Wenn man zufrieden und froh ist, so wünscht man alle Menschen vergnügt und heiter zu sehen und trägt alles in seinem Wirkungskreise dazu bei.“ Wie sie sich hier ausließ, so zeigte sich auch ihre Leiblichkeit: die schlank aufgebaute Gestalt, voll Beweglichkeit und doch würdevoll im Auftreten, die schöngewölbte freie Stirne, die großen Braunaugen mit dem offenen Blick, das schalkhafte Mienenspiel um die Mundwinkel, der wohlwollend heitere Ausdruck des ganzen guten und lieben Gesichts. Ihr seelisches Portrait hat sie in einem Briefe vom Jahre 1785 also gezeichnet: „Ich habe die Gnade von Gott, daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von mir weggegangen ist, weß Standes, Alters und Geschlechtes sie auch gewesen. Ich habe die Menschen sehr lieb und das fühlt Alt und Jung, gehe ohne Prätension durch die Welt und das behagt allen Erdensöhnen und -Töchtern, bemoralisire Niemanden, suche immer die gute Seite auszuspähen, überlasse die schlimmen dem, der die Menschen schuf und der es am besten versteht, die Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“ Und so blieb sie, die Gebresten des Alters tapfer niederkämpfend, bis zuletzt, bis zu ihrem Todestag, dem 13. September von 1808. Nachdem der Arzt auf das bestimmte Verlangen der Kranken ihr die Scheidestunde zum voraus angezeigt hatte, ordnete sie für Bestattung alles mit größter Pünktlichkeit, bestimmte die Weinsorten, welche zum „Leichenschmause“ aufgestellt werden sollten, und schärfte der Köchin ein, ja nicht zu wenig Rosinen in die Kuchen zu thun. Sie habe das all ihr Lebtrag nicht leiden können und würde sich noch im Grabe darüber ärgern. Einer nicht unglaubhaften Legende zufolge hat ihr treuer Lebensbegleiter, Tröster Humor, sie auch im Sterben nicht verlassen. Am Morgen ihres Todestages lief von einer befreundeten Familie, welche die Krankheit der Frau Rath für unbedenklich und rasch vorübergehend halten mochte, eine Einladung ein, worauf die Sterbende als letzte Offenbarung ihrer „Frohnatur“ zurücksagen ließ: „die Frau Rath kann nit kommen, sie hat alleweile zu sterben“ …

So war Goethe’s Herkunft, so waren seine Eltern, so wurde er geboren. In glücklichen Verhältnissen, nicht zu hoch und nicht zu niedrig, als der Sohn eines ehrenfesten und hablichen Hauses, in dessen Räumen die hagere Noth und die bleiche Sorge nicht umschlich, als das Kind eines sorgsamen Vaters und einer herzlichen Mutter, jeglichen Bildungsmittels gewiß, von frühauf der Erfüllung aller billigen Wünsche sicher. Wolfgang’s, des Einzigen, Jugend, Bildungsgang und Eintritt in die thätige Welt waren so von den Umständen begünstigt, daß man unschwer vermuthen könnte, sein großer Bruder im Geiste, Schiller, habe die Strophe:

„Wie leicht ward er dahingetragen
Was war dem Glücklichen zu schwer?
Wie tanzte um des Lebens Wagen
Die lustige Begleitung her!“

im unwillkürlich vergleichenden Hinblick auf den Contrast zwischen Goethe’s leichtem Emporfliegen und seinem eigenen mühseligen Emporklimmen gedacht und geschrieben. Ja, der Sohn der Frau Aja war ein glücklicher Mensch, war es bis zuletzt. Freilich hat er in einer trüben Stunde seiner alten Tage gesagt: „So ich alles von wirklichem und reinem Glück in meinem Leben zusammenrechne, kommen höchstens vier Wochen heraus.“ Aber vier Wochen wirklichen und reinen Glückes in einem Menschenleben sind viel, sehr viel! Es giebt wahrlich der Menschen genug, mehr als genug, welche, wenn sie Alles zusammenzählen, keine vier Tage, keine vier Stunden herausbringen.

Laßt uns nun zunächst zusehen, wie unser glückliches Augustkind von 1749 zum Knaben und Jüngling aufwuchs und wie der Genius in ihm zuerst leise die Fittige zu rühren anhob.

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