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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

allen gesellschaftlichen Verkehr verzichten müssen; ich hätte endlich für meine Frau und Kinder keinen Arzt und keine Wärterin halten, und Medicamente nicht beziehen dürfen, wenn ich hierzu keine besonderen Mittel hatte, weil meine Gläubiger dadurch verkürzt wurden. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, dies von mir zu verlangen, so will ich mich bescheiden, daß ich übertrieben habe. Aber Sie können das nicht verlangen. Berücksichtigen Sie nur, lieber Herr, daß zu der Zeit, wo mein Gehalt fixirt wurde, ein gewöhnlicher Pferdeknecht mit höchstens dreißig Thalern, und eine Magd mit sechszehn Thalern Lohn jährlich abgefunden wurde, während jetzt jener fünfzig bis sechszig Thaler, und diese bis dreißig Thaler erhält; berücksichtigen Sie ferner, daß diese Lohnerhöhung für alle anderen Lebensverhältnisse genau dieselbe ist; und dann berücksichtigen Sie, daß der Gehalt eines Bureau- Assistenten, auf dem eine weit größere Vertretungs-Verpflichtung haftet, als auf Knecht und Magd, unverändert derselbe geblieben ist, und die Abzüge sich gesteigert haben.“

Thürbeck machte es wie viele andere Verbrecher, er gestand die strafbare Handlung zu, wälzte aber die Schuld auf die ungünstigen Verhältnisse, die ihn dazu gedrängt haben sollten. Ich benutzte eine Pause, die er machte, um ihm dies zu Gemüthe zu führen. Er ließ mich aber nicht ausreden.

„Sie haben mich nicht verstanden,“ sagte er mich unterbrechend, „ich will mich nicht entschuldigen, ich weiß recht gut, daß der Mensch, und vorzugsweise der Beamte, unter allen Verhältnissen treu und ehrlich sein muß, ich kam nur darauf zu sprechen, um Ihnen die Größe meiner Leiden einigermaßen klar zu machen. Lassen Sie mich in meinem Bekenntnisse nun zum Schluß kommen. Etwa vierzehn Tage nach Empfang des letzten Drohbriefes gingen an einem Tage zwei Klagen gegen mich ein. Der Schneider und der Fuhrherr hatten diese angestellt. Ich war bei dem Anblick derselben wie erstarrt, folgte einer augenblicklichen Eingebung, und steckte die Papiere, indem ich sie zusammendrückte, in meine Tasche. Das war das erste Unrecht. Ich war mir dessen vollständig bewußt, ich verhehlte mir auch nicht, daß damit nur momentan geholfen sei, daß ich ein Mittel ersinnen müsse, dies erste Unrecht zu vertuschen. Nur Geld konnte mich retten. Wo sollte ich das aber finden? Die erste Gehaltszahlung war erst nach vier Wochen fällig. Vorschuß durfte ich nicht nehmen. Geld! Hatte ich denn nicht genug unter meinem Verschlusse? Wenigstens acht Tage lang schloß ich fast stündlich den Kasten auf und ließ das Geld durch meine Hände gleiten, schloß aber immer wieder zu, indem ich sagte: ‚du mußt, du willst ehrlich bleiben.‘ Ich kann Ihnen nicht mit Worten ausdrücken, wie unendlich schwer es mir wurde, wie das Blut in mir kochte, wie der Schweiß massenhaft ausströmte, der Kopf und die Brust mir zu zerspringen drohete. Dieser peinigende Zustand verschlimmerte sich, als eine dritte Klage einging, und diese von mir gleichfalls unterdrückt worden war. Dies war etwa drei Wochen vor der Gehaltszahlung. Drei Wochen umfassen eine kleine Ewigkeit, wenn jede Stunde Leiden schafft, für welche es gar keinen Namen giebt. Auf der einen Seite peinigte mich die Furcht vor der Entdeckung meines strafbaren Handelns, auf der andern Seite quälten mich die Sorgen und Entbehrungen, und da mitten hindurch schrie eine Stimme aus mir heraus: ‚nimm von dem Gelde, was du verwahrst, dann ist dir geholfen.‘ Diese Stimme war laut, ich konnte sie nicht zum Schweigen bringen, sie war am lautesten, wenn ich Cassegelder einschließen mußte. Ich entschloß mich, dies so viel als möglich zu vermeiden. Das war schon Schwäche, ich fürchtete die Gefahr. Als ich anfing, die eingehenden Gelder anzusammeln und täglich nur ein Mal einzuschließen, bestürmten mich Gedanken anderer Art: ‚Behalte das Geld, schließ es nicht ein,‘ so rief es in mir. Ich schrie zwar immer noch: ‚nein! nein! nein!‘ aber dies Schreien war nur der Ausdruck innerer Angst, es beruhete nicht mehr ausschließlich auf Ueberzeugung und dem Bewußtsein meiner Pflicht.

Das Unglück wollte, daß eines Tages eine Post von über hundert Thalern mir in meiner Wohnung gezahlt wurde. Es war dies beinahe dieselbe Summe, welche das Object der gegen mich angestellten Klage bildete. Ich steckte das Geld in meine Tasche und nahm es mit nach dem Gericht, um dasselbe zu buchen und einzuschließen. Am Abend hatte ich das Geld noch in meiner Tasche. Die Nacht, welche nach diesem Tage folgte, verbrachte ich in einer furchtbaren Aufregung, kein Schlaf kam in meine Augen, ich fand keine Ruhe. Mein Denken richtete sich aber nicht mehr auf den Widerstand gegen das Unrechtthun, sondern lediglich darauf, das Unrecht zu verdecken. Als der Morgen grauete, verließ ich mein Lager geistig und körperlich ermattet. Und doch hatte sich die Aufregung gelegt. Ich war ruhig geworden, weil ich es aufgegeben hatte, ehrlich zu sein.“ –

Thürbeck schlug beide Hände vor das Gesicht, und mit einer Stimme, wie ich sie noch bei keinem Menschen gehört hatte, rief er: „Herr, ich wurde ein Verbrecher. Das Geld, das mir nicht gehörte, schickte ich fort; die Bücher, in welche ich die Zahlung hätte vermerken müssen, blieben unausgefüllt.“ –

Dies Bekenntniß und die Art und Weise, wie es gegeben wurde, war herzzerreißend. Ich vermochte das Weinen nicht zu unterdrücken, die Thränen nicht zurückzuhalten, und verließ das Zimmer. Als ich nach vielleicht zehn Minuten dahin zurückkehrte, hatte Thürbeck seine Stellung noch nicht verändert. Was sollte ich thun? Sollte ich trösten? Gab es denn für solchen Schmerz Trost? Worte reichten dazu jedenfalls nicht hin.

Ich setzte mich ruhig an meinen Arbeitstisch und schrieb die Anzeige an den Director. Thürbeck achtete nicht auf mich, er zog seine Hände nicht von dem Gesicht zurück. Erst als ein Unterbeamter eintrat und mit den Schlüsseln, die er in der Hand trug, unnützen Lärm machte, fuhr er auf. Seine Augen irrten umher, er schien nicht zu wissen, wo er sich befand. Ich befürchtete eine Scene, der Beamte sollte nicht Zeuge sein, ich schickte ihn fort. Kaum hatte dieser das Zimmer verlassen, so trat Thürbeck auf mich zu und ergriff meine Hände.

„Sie behandeln mich, den Verbrecher, mit Güte,“ sagte er, während seine Augen naß wurden, „Sie ziehen Ihre Hände nicht zurück, Sie verachten mich nicht, der gütige Gott lohne Ihnen das, ich vermag es nicht zu thun. Ich habe Ihnen gesagt, unter welchen Umständen ich Verbrecher geworden bin, offen und ehrlich, wie ich es später nicht wieder werde sagen können. Ich muß Ihnen auch noch mittheilen, wie ich hierher gekommen bin.

Gestern gegen Mittag sah ich den Cassen-Revisor ankommen. Ich hielt mein Verbrechen bereits entdeckt. Alles Blut stieg mir in den Kopf, ich war keines Gedankens mächtig. In meiner Angst, ohne Bewußtsein, verließ ich das Gerichts-Local und die Stadt, ich lief auf Nebenwegen in eine unweit derselben gelegene Waldung, und in diese so weit hinein, bis ich vor Ermüdung niederstürzte. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, und eben so wenig, weshalb ich hierher gelaufen war und was ich hier thun wollte. Die Angst hatte mich fortgetrieben, die Angst ließ mich nicht denken, keinen Entschluß fassen. Es war Abend geworden, ich wußte nicht, wie das gekommen war, ich lag noch an derselben Stelle, meine Glieder waren steif, wie gelähmt, der Kopf brannte mir wie Feuer, die Augen schmerzten mir, und doch konnte ich sie nicht schließen, ich war unbeweglich, und doch fand ich keine Ruhe. Um mich herum in einem weiten Kreise rührte und regte sich nichts, es herrschte die tiefste Stille, kein Laut drang bis zu meinen Ohren, nur hier“ – er legte die Hand auf die Brust – „war es lebendig, da arbeitete das böse Gewissen und bereitete mir Qualen, die mir noch in der Erinnerung schrecklich sind. Um mich her war dichte, undurchdringliche Finsterniß, und Friede und Ruhe. Auch in mir sollte es still werden. Ich wollte den Faden zerreißen, der mich mit dem Leben zusammenhielt, der Tod mußte das Gewissen zum Schweigen bringen, die Qualen endigen. Es kam anders. Der Verlust des Blutes aus den Wunden, die ich mir zugefügt hatte, erleichterte die Brust, und machte nach und nach auch den Kopf frei. Ich vermochte wieder zu denken. Weib und Kinder, die nichts wußten von meiner Schuld, traten mir vor die Augen. Da mußte ich so ganz unwillkürlich die blutenden Hände hoch heben und in einander fügen, und aus der erleichterten Brust drängten sich Worte inbrünstigen Gebetes zu Gottes Thron empor. Meine Angst milderte sich, Friede kam in meine Brust und Ruhe in mein gequältes Herz. Ich war im Stande, mit voller Ergebung in meine Zukunft die Wunden, die mir den Tod geben sollten, zu verbinden, um mich dem trostlosesten Leben, dem Leben im Zuchthause, zu erhalten.“ –

Der Beamte kehrte zurück. Er überbrachte mir die Anweisung, Thürbeck einzuschließen. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse mußte ich diesem versprechen, seiner Frau von seinem Aufenthalte Nachricht zu geben, und ihm zu gestatten, sich ausruhen zu dürfen. –

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