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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

dem Instinct des wahren Genies erkannte er indeß, daß die Tage des engen Schnitts gezählt waren, und führte, gewissermaßen im Stillen erst, die lose und bequeme Kleidermode ein, deren wir uns Gott sei Dank! bis heutigen Tages erfreuen. Bald fanden sein ‚Schnitt und Sitz‘ überall Gnade vor dem gebildeten Auge, und ehe er es noch selbst recht wußte, war er der unumschränkte König der Schneider, der Neid und die Verzweiflung aller seiner Herren Collegen in England und auf dem Continente geworden, der glückliche Mann, welchem die gewaltige Herrscherin im Reiche der Mode, Paris, auch heute noch keinen ebenbürtigen Rivalen gegenüberzustellen hat.

Waters ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein Geschäftsepikuräer. Nur einer ganz kleinen Zahl der ersten Tonangeber des Geschmackes geruht er in ihren eigenen Wohnungen das Maß zu nehmen. Bei dergleichen Gelegenheiten muß sein Wagen, ein prachtvoller Brougham, herbei, und der Kunde, vor dessen Hause diese elegante Equipage zu halten sich herabläßt, steht sicher auf den höchsten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Man erzählt sich eine Anekdote, daß ein edler Graf, Earl S…, dessen Hochmuth größer ist als seine Güter, Waters eines Tages höhnisch fragte: ‚Ist das Ihr Wagen, Mr. Waters, der vor meinem Hause hält?‘ ‚Allerdings, Mylord,‘ lautete die schnelle Antwort, ‚aber er hat zum letzten Male da gehalten.‘ Und der Schneider machte eine tiefe Verbeugung, entfernte sich und strich den hochgebornen Grafen unerbittlich aus der Liste seiner Kunden.“

Unsere Anfrage, das merkwürdige Etablissement in Augenschein nehmen zu dürfen, wurde auf das Bereitwilligste erfüllt, indem man uns sofort einen speciellen Cicerone durch das weitläufige Territorium zutheilte. Leider aber war der große Mann nicht selbst zugegen: er befand sich in Brighton bei einem seiner erhabenen Geschäftsfreunde.

Schon der Eintritt in die kunstgeweihten Hallen macht einen ungewöhnlichen Eindruck. Thüren, Pulte, Ladentische, die letzteren mit den neuesten Neuigkeiten an Stoffen und Mustern bedeckt, sind vom massivsten, blank polirten Mahagony; Trümeaux von der Decke bis zum Fußboden, bequeme Divans und Fauteuils schmücken die Wartezimmer, aus denen man in das „Zuschneide-Departement“ gelangt. Es ist das ein geräumiger Saal, der sein Licht durch eine Glaskuppel empfängt, und jeder Zoll seiner Wände über und über mit mehr oder weniger der Vollendung nahen Garderobestücken behangen, mit Uniformen, Jagdcostümen, Promenaderöcken, Reiseanzügen, Hofkleidern u. a. m. Auf jedem einzelnen Kleidungsstücke war der Name seines künftigen Trägers angebracht, und welche glänzende Namen gab es da zu lesen! Die Spitzen der gesammten Pairie von Großbritannien und Irland, das halbe Parlament waren vertreten, und so manche auswärtige fürstliche Größe dazu!

„Es ist gegenwärtig unsere Sauregurkenzeit,“ bemerkte unser Führer. „Sie sehen jetzt blos ein halbes Dutzend Zuschneider beschäftigt; wenn aber die Saison beginnt, dann haben wir mehr als die doppelte Anzahl, und jeder darf dann vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein kaum von seiner Arbeit aufstehen. Hier nebenan haben Sie unser eigentliches ‚Atelier‘.“

Er öffnete die Thür. Ich sah ein großes Gemach; rund um seine Wände lief eine Galerie, und der Fußboden desselben gewährte einen höchst eigenthümlichen Anblick. Nicht auf Werktischen, wie dies in anderen ähnlichen Etablissements der Fall zu sein pflegt, sondern auf der Diele selbst saßen wie die Türken mit untergeschlagenen Beinen über hundert Mitglieder der edlen Schneiderzunft. der Eine nähte, der Andere reihte an, ein Dritter säumte, der Vierte faßte Knopflöcher ein, ein Fünfter bügelte, und so in’s Unendliche fort, während gleichzeitig eine unabsehbare Menge von Nähmaschinen in Bewegung waren. Die Mehrzahl der Männer schienen mir kräftige, gesunde Bursche zu sein, meist schon in mittleren Jahren, und straften offenbar das bekannte englische Sprüchwort Lügen, daß der Schneider nur der neunte Theil eines Menschen ist.

„Während der Saison,“ nahm der Cicerone wieder das Wort, „sind auch alle die Galerieen da oben mit Arbeitern und Maschinen besetzt; da haben wir auch nicht einen Zoll freien Raum, und wenn der Saal noch dreimal so groß wäre, als er ist, er würde dann noch immer kaum groß genug sein. Jeder der Leute, welche Sie hier sehen, ist ausgezeichnet in seinem speciellen Arbeitsfache – die Arbeitstheilung ist bei uns bis in’s Kleinste durchgeführt – und verdient wöchentlich seine zwei bis drei Pfund Sterling, oft noch mehr, wenn er Extra-Arbeitsstunden zu berechnen hat. Vor ein paar Monaten war jedoch der ganze Saal hier und alle unsere Arbeitsräume öde und leer, sämmtliche Männer, mit Ausnahme des Alten hier rechts in der Ecke, hatten ‚Strike‘ gemacht; blos er war verständig genug, um einzusehen, daß es besser sei, wenn er seine Familie von dem erhaltenen Lohne behaglich sättigte, als halb verhungern ließ bei den Spenden der Genossenschaft. In den meisten Fällen sind die Gesellen zu ihren alten Meistern zurückgekehrt, nachdem sie mehr als fünfzigtausend Pfund Sterling verausgabt und eine viel größere Summe von Arbeitslöhnen eingebüßt haben.“

„Stehen Arbeitgeber und Arbeiter wieder auf dem alten guten Fuß zusammen?“ frug ich.

„Größtentheils. Die Leute waren froh, daß sie wieder kommen konnten, und wir, daß wir sie wieder hatten. Sie wissen, was unsere Kunden brauchen und fordern, neue Leute wissen es nicht. Wie ich Ihnen schon sagte, Sie sehen hier nichts als auserlesene Arbeiter, von denen jeder in irgend einem Zweige der Schneiderei Vorzügliches leistet.“

Wir gingen ein paar Stufen hinab und traten in einen Raum, der rundum mit Haufen von Kleiderschnitten in starkem braunen Papier garnirt war. Auf jedem stand wieder mit deutlicher Schrift ein Name vermerkt, und abermal war mir’s, als wenn ich in jenen Vademecums der britischen Aristokratie, „Dodd’s Peerage“ und „Gentry“ blätterte, die in England etwa die Stelle unserer Gothaischen Hofkalender und genealogischen Taschenbücher vertreten. Dutzendweise zogen die Namen von Herzogen und Marquis, von Earls und Viscounts, von Lords und Baronets, von Right Honorables und Honorables und von nicht wenigen festländischen Notabilitäten an meinen Augen vorüber, ich befand mich mithin in der allerbesten Gesellschaft. Jeder dieser betitelten Herren hatte hier sein Maß und seine Schnitte für Hof- und Gala-, für Reit- und Jagdkleidung und seine Nummer daneben, so daß er aus seinem Schloß, von seinem Landsitz, von seinem Hôtel in Neapel oder Constantinopel blos einen Brief oder ein Telegramm nach Savile Row zu expediren braucht, um in allerkürzester Frist, „in keiner Zeit“, sagt der Engländer, seinen neuen Frack für den angesagten Hofball in den Tuilerien, seinen Scharlachrock für die nächste Fuchshatz, seine Promenadentoilette für Biarritz oder Baden-Baden zu erhalten. Ein besonderer Beamter steht diesem merkwürdigen Archive vor, in dem ich mir ordentlich wie ein unberufener plebejischer Eindringling erschien.

Wir stiegen wieder zum großen Werksaal empor und dann in das erste Stockwerk hinauf. Eine fürstlich ausgestattete Galerie empfing uns, mit einer lebensgroßen Büste Louis Napoleon’s an dem einen und der Büste der Prinzessin von Wales am andern Ende. Sie bildet den Corridor zu einer Reihe von luxuriösen Gemächern, wie sie im Palaste eines Lords nicht reicher und schöner angetroffen werden. Da sahen wir erst das blaue, darauf das gelbe, dann das rothe Zimmer, sämmtlich im besten Geschmack decorirt und mit Allem versehen, was die Gegenwart an Wohncomfort zu Tage gefördert hat.

„Das ist unser Damendepartement,“ erklärte unser Cicerone; „denn Sie müssen wissen, wir haben auch eine ausgebreitete Damenkundschaft. Alles, was aus der vornehmen und vornehmsten weiblichen Welt des Landes zu Pferde steigt und den Reitcorso von Rotten Row in Hydepark, welchen Sie gewiß schon manchmal bewundert haben, zu einem so unvergleichlichen Schauspiele macht, wie es die Erde nicht zum zweiten Male darbietet, dem liefern wir die nöthigen Reitgewänder und die dazu gehörigen festen Unaussprechlichen; und hier im gelben oder blauen oder rothen Gemache können die Herzoginnen und Marquisen, die Gräfinnen und Ladies Anprobe halten, ganz als wären sie in ihren eigenen Toilettegemächern. Den Salon hier“ – er öffnete die Thür zu einem noch kostbarer eingerichteten Raume – „nennen wir den Salon des Prinzen von Wales. Darin pflegt mein Chef Seine königliche Hoheit zu empfangen, wenn uns, was ziemlich häufig geschieht, der Prinz mit seinen Geschäftsbesuchen beehrt.“

In der Nähe dieses fürstlichen Salons hat sich Waters sein eigenes Allerheiligstes hergerichtet, ein kleines, aber echt englisch comfortables Zimmer, in welchem ein bequemer großer Schreibtisch und einige bequeme Lehnstühle standen. Hier hält der große

Mann seine Levers, wenn er sich in der Stadt befindet; eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_762.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)