Seite:Die Gartenlaube (1869) 634.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Die dritte Abteilung umfaßt ausschließlich politische Satiren, darunter eine Anzahl Sonette und einen witzigen Prolog zum Wintermärchen „Deutschland“. Nachstehendes Gedicht scheint sich auf Herwegh zu beziehen, welcher auch in der letzten Abtheilung mit einem stark gepfefferten Spottergusse bedacht wird:


An einen politischen Dichter.

Du singst, wie einst Tyrtäus sang,
Von Heldenmuth beseelet,
Doch hast du schlecht dein Publicum
Und deine Zeit gewählet.

5
Beifällig horchen sie dir zwar,

Und loben, schier begeistert:
Wie edel dein Gedankenflug,
Wie du die Form bemeistert.

Sie pflegen auch beim Glase Wein

10
Ein Vivat dir zu bringen

Und manchen Schlachtgesang von dir
Lautbrüllend nachzusingen.

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:

15
Das fördert die Verdauungskraft

Und würzet die Getränke.

Die bei Weitem größte Zahl der hinterlassen Gedichte entstammt den letzten Krankheitsjahren und ist erst nach Veröffentlichung des „Romancero“ entstanden. Sie bilden die vierte Abtheilung und werden durch ein großes, mehrere Bogen umfassendes Gedicht im Tone und Versmaße des „Atta Troll“ eröffnet, das zu den herrlichsten, poetisch reinsten Erzeugnissen der Heine’schen Muse gehört. Es führt den Titel „Bimini“, und ist vollständig abgeschlossen, wenn gleich Heine, nach der umständlichen Breite des Prologs zu schließen, anfangs eine etwas detaillirtere Ausführung der seltsamen Entdeckungsfahrt nach der Wunderinsel, wo der Quell der Verjüngung fließt, beabsichtigt haben mag. In der zweiten Hälfte dieser Abtheilung ist die Satire auf politische, literarische und musikalische Zustände und Personen besonders reichhaltig vertreten, und jener furchtbare Nihilismus, der sich als das Endresultat von Heine’s Entwicklung herausstellte, spricht hier und in den Nachtragsliedern zum „Lazarus“ mit gellendem Verzweiflungsschrei sein letztes Wort. Auch die sociale Frage, deren Lösung Heine mit schaudernder Angst in dem ihm unvermeidlich dünkenden Siege des Communismus erblickte, beschäftigt ihn in diesen Sterbelager-Phantasien:


Die Wanderratten.

Es giebt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

5
Sie wandern viel’ tausend Meilen,

Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,

10
Sie schwimmen wohl durch die Seen;

Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die lebenden lassen die todten zurück.

Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze,

15
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,

Ganz radical, ganz rattenkahl.

Die radicale Rotte
Weiß Nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,

20
Die Weiber sind Gemeindegut.


Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

25
So eine wilde Ratze,

Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld,
Und wünscht auf’s Neue zu theilen die Welt.

Die Wanderratten, o wehe!

30
Sie sind schon in der Nähe,

Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen, die Zahl ist Legion.

O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Thoren!

35
Der Bürgermeister und der Senat

Sie schütteln die Köpfe, und Keiner weiß Rath.

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium

40
Des sittlichen Staats, das Eigenthum.


Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hochwohlweise Senatsdecrete,
Auch nicht Kanonen, viel’ Hundertpfünder,
Die helfen euch heute, ihr lieben Kinder!

45
Heut’ helfen euch nicht die Wortgespinnste

Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.

Im hungrigen Magen Eingang finden

50
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen

Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Citaten.

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radicalen Rotten

55
Viel besser, als ein Mirabeau

Und alle Redner seit Cicero.


Als die wunderbarste Perle dieser Krankheitsgedichte aber erscheint mir das folgende Lied, in welchem die rein poetische Bewältigung des grausamsten Stoffes, der einem Dichter beschieden sein kann, des Mark und Bein verzehrenden Uebermaßes eigener physischer Leiden, von einer titanischen Obmacht des Geistes über den gebrechlichen Körper zeugt, welche bei allem realistischen Anschein doch in sich selbst eine glänzende Verherrlichung der idealistischen Weltanschauung ist:

Mir lodert und wogt im Hirn eine Fluth
Von Wäldern, Bergen und Fluren;
Aus dem tollen Wust tritt endlich hervor
Ein Bild mit festen Contouren.

Das Städtchen, das mir im Sinne schwebt,
Ist Godesberg, ich denke.
Dort wieder unter dem Lindenbaum
Sitz’ ich vor der alten Schenke.

Der Hals ist mir trocken, als hätt’ ich verschluckt
Die untergehende Sonne.
Herr Wirth! Herr Wirth! Eine Flasche Wein
Aus Eurer besten Tonne!

Es fließt der holde Rebensaft
Hinunter in meine Seele
Und löscht bei dieser Gelegenheit
Den Sonnenbrand der Kehle.

Und noch eine Flasche, Herr Wirth! Ich trank
Die erste in schnöder Zerstreuung,
Ganz ohne Andacht! Mein edler Wein,
Ich bitte dich drob um Verzeihung.

Ich sah hinauf nach dem Drachenfels,
Der, hochromantisch beschienen
Vom Abendroth, sich spiegelt im Rhein
Mit seinen Burgruinen.

Ich horchte dem fernen Winzergesang
Und dem kecken Gezwitscher der Finken –
So trank ich zerstreut, und an den Wein
Dacht’ ich nicht während dem Trinken.

Jetzt aber steck’ ich die Nase in’s Glas,
Und ernsthaft zuvor beguck’ ich
Den Wein, den ich schlucke; manchmal auch
Ganz ohne zu gucken, schluck’ ich.

Doch sonderbar! Während dem Schlucken wird mir
Zu Sinnen, als ob ich verdoppelt,
Ein andrer armer Schlucker sei
Mit mir zusammengekoppelt.

Der sieht so krank und elend aus,
So bleich und abgemergelt.
Gar schmerzlich verhöhnend schaut’ er mich an,
Wodurch er mich seltsam nergelt.

Der Bursche behauptet, er sei ich selbst,
Wir wären nur Eins, wir Beide,
Wir wären ein einziger armer Mensch,
Der jetzt am Fieber leide.

Nicht in der Schenke von Godesberg,
In einer Krankenstube
Des fernen Paris befänden wir uns –
Du lügst, du bleicher Bube!

Du lügst, ich bin so gesund und roth
Wie eine blühende Rose,
Auch bin ich stark, nimm dich in Acht,
Daß ich mich nicht erbose!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_634.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)