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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

der Himmel kann Dir nicht auch das noch zufügen, Menschen können Erbarmen haben.… Lebe wohl!“

Er riß sich aus Benedictens Armen, die ihn krampfhaft umschlangen, los, er ließ sie sanft auf den Boden gleiten, auf den sie halbohnmächtig niederglitt, und stürzte davon.

„Der Thor!“ knirschte Duvignot ihm wüthend nach, „mit ihm wird man kein Erbarmen haben – über eine Stunde werde ich sein Leben, wie das des Andern in jedem Momente, der mir beliebt, vernichten, ecrasiren können – und bei Gott, Marcelline, ich werde es thun, ich werde es, Du weißt allein, was mich abhalten kann und wird, diese Todesurtheile zu unterschreiben.“ …

„Ich weiß es,“ erwiderte Marcelline, die gebrochen zusammengesunken in ihrem Sessel lag. zu dem sie sich geschleppt hatte, „ich weiß es, und …“

„Was ist das?!“ unterbrach Duvignot sie, plötzlich aufbrechend und erblassend … „alle Teufel, was ist das?“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er hinaus.

Wilderich war unterdeß davongestürzt, die Treppe hinab, zum Hause hinaus – er wußte, daß er keinen Augenblick zu verlieren hatte, wenn er um acht Uhr an der Stelle sein wollte, wo das Kriegsgericht gehalten wurde … er hatte zehn Minuten nöthig, um bis zum Römerberg zu kommen – als er auf die Zeil hinauskam, hob auf dem Katharinenthurm ihm gegenüber die Uhr aus, den ersten Schlag von acht zu thun – zugleich aber wurde die Luft durch eine dumpfe Detonation erschüttert … es schien ein Kanonenschlag … noch einer … dann, nach einer Pause, wieder einer … heller und stärker zitterte es durch die dunkle Abendluft! Weit oben, nach dem Allerheiligenthor hin, wurde getrommelt … fern vom Roßmarkt her wurde Schreien und Rufen hörbar … jetzt auch wurde an der nahen Hauptwache getrommelt … und, was geschlagen wurde – Wilderich kannte sehr wohl die Bedeutung dieses Tacts auf dem Kalbfell – was geschlagen wurde, das war das ça-ira, das war der Generalmarsch der Republikaner.

Dazwischen dröhnte das Schießen fort … und – irrte sich Wilderich darin, war es eine Täuschung, hervorgerufen durch sein so stürmisch durch die Adern der Schläfen gepeitschtes Blut? – aber es war ihm, als spräche so nur der Mund österreichischer Kanonen, als kämen diese Geschützschläge aus den schweren deutschen Rohren!

Das Geschrei vom Roßmarkt her wurde stärker, lauter – ein Menschenhaufen hatte sich da zusammengeballt, er kam heran und drängte näher und näher – er vergrößerte sich von allen Seiten … dann theilte er sich, eine Hälfte blieb vor der Hauptwache, in einer gewissen respectvollen Entfernung … die andere Hälfte wälzte sich die Zeil hinauf. … Wilderich verstand jetzt dies Rufen, dies „Hurrah“, dies „die Kaiserlichen sind da, der Prinz Karl ist da!“ – er drängte sich in den Haufen hinein, er fragte, er rief, aber es wurde ihm schwer, eine verständliche zusammenhängende Antwort von einem der wie trunken von Freude und Ingrimm zugleich berauschten Menschen zu erhalten.

„Jetzt holt sie der Teufel, jetzt holt sie alle der Teufel, wenn sie nicht machen, daß sie fortkommen, das Räuberpack, die Canaille, die Hundsfötter … der Prinz Karl ist da … von Offenbach her, wie das Wetter sind die Szekler-Husaren in Sachsenhausen hinein – die Kanonen fegen mit Kartätschen die Mainbrücke rein – hurrah die Kaiserlichen, hurrah die Weißröcke!“

Die Rufe erstarben im Gedröhn der Trommeln, die zwischen einer starken Escorte jetzt die Zeil hinauf sich bewegten, um den Generalmarsch in allen Hauptstraßen ertönen zu lassen.

„Gott sei gedankt!“ rief Wilderich, vor dem wilden Jubel in seinem Innern kaum seiner Sinne mehr mächtig, und seine Stimme erhebend, rief er aus: „Dann ist’s auch mit dem Kriegsgerichthalten und Füsilirenlassen am End’ – Ihr Leute, es giebt dann Besseres zu thun, als hier Hurrah zu schrein – gehen wir zum Römer, da soll eben der Schultheiß Vollrath gerichtet werden – reißen wir ihn den Franzosen aus den Händen, bringen wir ihm die Freiheit, bringen wir ihn im Triumph zu den Seinen zurück!“

Es brauchte nur in die stürmisch bewegte Masse solch ein Gedanke geworfen zu werden, um sie dafür zu begeistern … sie verlangten nichts Besseres, als eben eine That, etwas Gewaltsames, eine stürmische Kraftäußerung, um sich darin auszutoben.

„Hoch der Vollrath! hurrah, zum Römer! hoch der Schultheiß!“ schrie es sofort von allen Seiten; Alles stürzte sich nach einer Richtung, Alles, was sich aus allen Häusern auf die Straßen ergoß, die Männer, die Weiber, die Kinder, warf sich in den Strom.

Auf halbem Wege zum Römer aber staute sich plötzlich dieser Strom. Vom Römerberge her kam ein anderer Haufe ihnen entgegen … mit denselben Hurrahs, denselben Rufen … sie hatten den Schultheiß in ihrer Mitte; sie hatten ihn aus dem Saale geholt, sie hatten das Triumphgeleite, zu dem Wilderich aufgefordert, längst gebildet … das Kriegsgericht hatte bei den ersten Alarmrufen, noch bevor es begonnen, sich aufgelöst; die Officiere, die Soldaten, Alles war zersprengt, in wilder Hast auseinandergelaufen, zu seinen Truppentheilen, seinen Sammelplätzen zu kommen; den Angeklagten hatte man sich selber überlassen und denen, die, als Zuschauer zu den Verhandlungen des Gerichts gekommen, ihn jetzt umjubelten.

So wälzte sich denn nun eine dichtgedrängte, tosende Volksmenge der Zeil wieder zu – in deren Mitte der Schultheiß Vollrath, halb getragen, nur noch halb seiner Sinne mächtig nach allen Erschütterungen der letzten Tage, nur halb noch lebend einherschwankte.

Als Wilderich die Ecke der auf die Zeil mündenden Straße erreichte, sah er, über Haufen vorüberrennender, nach ihren Sammelplätzen eilender Franzosen fort, eine Gruppe von vier oder fünf Reitern drüben vor dem Hause des Schultheißen halten. Sie setzte sich eben in Bewegung – es war Duvignot mit seinen Adjutanten und Officieren. Wilderich hat ihn nie wiedergesehen. Sie waren so blitzschnell, diese Franzosen – als ob für einen Augenblick wie dieser Alles von ihnen vorgesehen und vorbereitet gewesen; in unglaublich kurzer Zeit waren die einzelnen Truppenkörper zusammen und in guter Ordnung zogen, Munitionscolonnen und Artillerie zuerst, dann die Gepäckwagen, die Cassen- und Proviantwagen, endlich die Bataillone und die Schwadronen durch das Eschenheimer und das Friedberger Thor ab, gen Norden in die Herbstnacht hinaus.

Wilderich sah, wie der Volkshaufe den Schultheiß in seine Wohnung geleitete, wie dieser darin verschwand, wie vor seinem Hause noch lange die versammelte Menge ihre Rufe, ihre Hochs schrie. Er hatte sich todtmüde, tief erschöpft auf einen Prellstein vor dem Portal der Katharinenkirche gesetzt. Da sah er des Schultheißen, Benedictens, seiner Benedicte Haus vor sich – sah, wie die Lichter hinter den Fenstern schimmerten, sah auch Gestalten sich bewegen, leichte Schatten, die hinter den herabgelassenen Vorhängen herglitten. Er sah und hörte das Gerassel und den Lärm der abziehenden Truppen; sah auch, wie die Oesterreicher fast auf dem Fuße ihnen nachrückten; die Eclaireurs mit den gespannten Faustrohren in der Hand, langsam an den Trottoirs entlang reitend, vorauf, dann lange Züge von Szekler-, von Kaiser-Husaren, dann schwer rasselnde Geschütze, dann weiß durch die Nacht schimmernde, schwerwuchtig und müde daher marschirende Fußvölker; er sah, wie sie Halt machten und sich anschickten zu bivouakiren, und wie das Volk ihnen jubelnd zutrug, was es für sie nach all’ den Plünderungen noch hatte, um sie zu speisen und zu tränken und zu betten.

Wilderich saß lange, lange so da. Es war, als ob ihn etwas festgebannt hätte an die Stelle, als ob ihm die Glieder gelähmt sein würden, wenn er aufstehen und sich bewegen wolle. Er fühlte die Kraft nicht, sich zu erheben und hinüber zu gehen in jenes Haus dort, in dem doch seine ganze Seele war. Er konnte es nicht über sich gewinnen, über jene Schwelle zu treten – jetzt – jetzt – wo dort ein Glück herrschen mußte, das er sich scheute zu theilen, als ob er desselben nicht würdig wäre – er, der so wenig gethan an dem Allen, so nur das Einfache, Natürliche, das Jeder gethan hätte, und der so überschwänglichen Lohn dafür erhalten!

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das ihn abhielt, da zu erscheinen, wo man seinen Namen rief, nach ihm suchte, ihn herbeisehnte, ihn verlangte. Aber es war zu mächtig in ihm – diese Blödigkeit eines tief- und feinfühlenden Herzens.

Die Morgensonne, als sie über den Dächern der befreiten Stadt aufstieg, sah ihn auf dem Lager eines Zimmers im „Grauen Falken“ im tiefen Schlummer[WS 1] furchtbarster Ermüdung.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schummer
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_613.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)