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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Fräuleins Tinne in Aegypten zum Scheitern zu bringen. Da fast zwei Drittel des Landes Privateigenthum des Vicekönigs sind, während fast ein drittel Moscheenbesitz ist, so gelang es ohne Schwierigkeit, auf die Eigenthümer eine Pression auszuüben, von denen das zum Bau nöthige Terrain erworben werden sollte. So verließ denn Fräulein Tinne das Nilland, um auf eigenem Dampfschiff die afrikanischen Küsten des Mittelmeeres zu befahren. Auf einige Zeit kam sie auch nach Civita Vecchia, von wo sie oft Rom besuchte. Es war natürlich, daß ihr Erscheinen hier in der Umgebung der schwarzen Söhne Afrika’s ein großes Aufsehen erregen mußte. In der Absicht, von Tripolis nach Timbuktu zu gehen, wendete sie sich an den eben erst von seiner kühnen Wanderung durch die unermeßliche Sahara von Marokko nach Tripolis zurückgekehrten Gerhard Rohlfs, um ihn zu ihrer Begleitung einzuladen. Leider hatte dieser junge mannhafte Reisende von dem König von Preußen den Auftrag erhalten, die abyssinische Expedition der Engländer zu begleiten, dem folgend er die Tinne’sche Einladung ablehnen mußte.

Das labyrinthische Durcheinander großer orientalischer Städte ist einem Europäer, der letztere nicht gesehen, schwer vorzustellen. Ich selbst, der ich viele Städte des Orients kennen gelernt und Jahre lang in ihnen gelebt habe, vermochte nicht, die Wohnung des Fräuleins Tinne in Massr antika (der alten Stadt von Kairo) wiederzufinden, obgleich mich Herr von Heuglin zum ersten Mal dorthin geführt hatte. Die Intelligenz der Kairiner Eseljungen, welche als die Droschkenkutscher Kairo’s mit den Eseln als Droschken gelten können, half mir über die entstandene Schwierigkeit weg. Als ich nämlich in Massr antika herumsuchte und jeden Winkel durchstöberte, um irgend ein Kennzeichen der Tinne’schen Wohnung zu erspähen, sagte mir der Fellahknabe mit seinen großen Sphinxaugen: „Effendi, Ihr wollt gewiß zu Contessa hollandese?“ Unter diesem Namen hatte sich die freigebige Dame unter dem eseltreibenden Proletariat der Khalifenstadt einen Namen erworben. Bewogen durch ihr weiches Herz hatte sie einmal ein Paar geschundener Esel – die Aegypter sind die geborenen Thierquäler – zu sich genommen, verpflegen und curiren lassen. Das ward bald kund, und so geschah es, daß von allen Seiten kranke Esel und anderes räudiges Gethier zur Contessa in die Cur gebracht wurde, und ihr Hôtel in ein Eselhospital verwandelt wäre, hätte nicht die Noth dem Mitleide gegen die Thiere Schranken gesetzt.

Das Haus des Fräuleins Tinne glich von außen ganz einer zerfallenen Ruine. Durch die dunklen Gänge des unteren fensterlosen Stockwerks, welche unsere am Nil nicht gekannten Kellerräume vertreten, gelangte ich, durch den kleinen Aegypter geleitet, auf einen freien Vorhof, wo ich wieder aufathmen konnte; der dunkel azurblaue Himmel, die goldig von heißer Sonne beschienenen Kronenhäupter dreier großer Palmen verliehen den ruinenartigen Baulichkeiten das Pittoreske, welches Maler mit Recht so gerne aussuchen. Auf freistehenden steinernen Treppen, die auf zerfallene Hintergebäude führten, sonnten sich Affen; kleine Negersclaven, Knaben und Mädchen, lagen im warmen Sonnenschein auf der Erde, größere Sudaneserinnen steckten neugierig aus zerbrochenen Fensterscheiben ihre wolligen Köpfe mit den glänzenden Augen und Zähnen; langhaarige nubische Windhunde, die zur Falkenjagd auf Gazellen dressirt waren, sprangen mir entgegen; ein alter weißbärtiger Berberiner, wie sie gewöhnlich zu Thürwächtern ägyptischer Häuser bestellt werden, empfängt meine Karte, um mich dem Fräulein auzumelden. Bald zurückgekehrt führt mich derselbe in einen zweiten Hof, wo ich an großen offenen Zimmern vorbeipassirte, in denen die ungeordneten ethnographischen Sammlungen sich befanden, welche von fünfzig Kameelen aus dem Innern Afrika’s hierhergeführt waren. Seltsame Waffen, ausgestopfte Vögel, Geweihe aller Art von Antilopen und Rhinocerossen, Geräthschaften sudanesischer Völkerschaften liegen da aneinander gehäuft.

Fräulein Tinne kommt mir entgegen; sie trägt ein orientalisches Tuch um den Kopf gewunden und ein ägyptisches Gewand mit langen weiten Aermeln von changirender grauseidener Farbe über ein schwarzes Trauerkleid geworfen; ihre Füße stecken nach arabischer Sitte in maroquinledernen Stiefeln. Die große, schöne, bleiche, durch Gram und Krankheit angegriffene Gestalt mit prononcirten geistreichen Zügen, mit dem freien und feinen Benehmen mußte auf Jeden einen angenehmen Eindruck machen. Ihr Salon, in den ich geführt wurde, war ein altes Harem, dessen eine Wand lauter Fenster bildeten; von draußen aber war es nicht möglich, durch diese Fenster zu sehen, weil vor ihnen sich fein geschnitzte, gegitterte Erkerchen, welche Muscharabien heißen, befanden; dadurch war ein mattes Zwielicht in dem Raum verbreitet, welches einen recht mystischen Reiz gewährte. Den Fußboden bildete ein buntes Marmorparquet. Die Decke bestand aus Holzgetäfel welches mit türkischem Geschnörkel verziert war. Rings um die Wände liefen die gewöhnlichen Divans, deren Gestell aus Palmenstäben fabricirt war. In der Mitte standen einige originelle niedrige Sessel, dreibeinig, phantastisch geschnitzt, aus dem Lande der Njam-Njam. Von europäischem Geräth entdeckte ich nur einen bescheidenen Holztisch, auf dem eine große arabische Laterne stand, welche heutzutage selbst noch bei den Paschas in Gebrauch ist. Daneben lagen Bücher und Zeichnungen Heuglin’s ausgebreitet.

Für mich als Maler waren die Besuche bei Fräulein Tinne insofern von großem Interesse, als ich dort Gelegenheit fand, die vielen Sclaven jeglicher Art aus so schwer erreichbaren Gegenden zu zeichnen. Fräulein Tinne kam meinen desfallsigen Absichten mit größter Liebenswürdigkeit entgegen. Unter den Mädchen zeichnete sich besonders ein junges Geschöpf von etwa vierzehn Jahren aus, welches dem durch seine Schönheit berühmten Stamme der Gallas entsprossen war. Sie hätte für eine Königin Candaces als Modell dienen können. Die Kinder beeilten sich, mir Arme und Brust zu entblößen, um die Skorpionen, Schlangen und Krokodile, die in sehr primitiv-phantastischen heraldischen Formen darauf tättowirt waren, zu bewundern. Die achtzehn ethnographisch merkwürdigen schwarzen und braunen Menschenexemplare waren, so erzählte mir Fräulein Tinne, ihr freiwillig gefolgt, weil sie in ihren heimischen wilden Ländern durch die nie aufhörende Sclaverei fortwährender Grausamkeit ausgesetzt waren. Von einem Missionär, der dort im Innern Afrika’s die Tinne gesehen, ward mir erzählt, daß sie manchmal einen schwer verwundeten Sclaven auf ihr Reisethier genommen und selbst stundenlang zu Fuß im tiefsten Sumpfe gewatet hätte. Fräulein Tinne war sehr mittheilsam. Während ich zeichnete, saß sie nach arabischer Sitte auf der Erde zuschauend, und ward nicht müde, mir ihre Erlebnisse mitzutheilen. Die großen Sumpfstrecken der Nilqullengebiete hatten ihre Erinnerung an ihre holländische Heimath wachgerufen; die endlosen grünen Triften, auf denen ihr Kindesauge geruht, traten lebhaft wieder vor ihre Seele. Des Grünen wurde ihr selbst manchmal zu viel, so daß sie sehnsüchtig wiederum der gelben ausgedörrten Saharawüste gedachte.

Der mit einem Beigeschmack von Romantik vielgenannte Name von Alexandrine Tinne wird unter den kühnen Personen unvergessen sein, denen wir eine Erweiterung unserer geographischen Anschauungen schulden. Die Expedition des Fräulein Tinne in die Sumpfregionen des Ghasal (Gazellenstromes) war eine Bereicherung der geographischen Wissenschaft gewesen, zumal da der bekannte abyssinische Reisende Theodor von Heuglin von Fräulein Tinne für dieselbe in Khartum gewonnen wurde. Zwar war der Gazellenfluß bis zu seinem Quellsee, der Meschra el Reg, zuerst durch Lejean aufgenommenn und bekannt gemacht, indeß wurde durch die Heuglin-Tinne’sche Expedition die Position der Meschra zuerst astronomisch festgestellt. Trotz mannigfacher Hindernisse gelang es den Reisenden, zwei große Ströme, die sich durch eine meilenweite Sumpfregion in den Ghasal ergießen, den Djur und Kosanga, zu überschreiten und die Wasserscheide zwischen den westlichen oberen Nil und zwei sehr beträchtlichen, dem Benne oder Schari zueilenden Gewässern Makna und Sena genannt, zu bestimmen. Ebenso hat diese Expedition Kunde von einem weitern central-afrikanischen Binnensee erhalten, der vielleicht den Ryanza an Größe übertrifft und ungefähr unter dem dritten Grad nördlicher Breite gelegen ist.

Jetzt nun bleichen die Gebeine der kühnen Reisenden in den sonnenverbrannten Einöden, deren Reize ihre Phantasie so lebhaft fesselten, und dienen mit den anderen Ueberresten von Menschen und Thieren, die hier Durst und Hunger oder Mord überraschte, dazu, in den pfadlosen Bahnen der Sahara dem Wanderer die Straße zu zeigen.

Wilhelm Gentz.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_602.jpg&oldid=- (Version vom 4.10.2022)