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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

werden immer flüssiger und freizügiger und stellen sich immer mit Dampfgeschwindigkeit oder sogar blitzschnell gern da ein, wo sie am willkommensten sind, den meisten Werth haben und die besten Werthe schaffen können. Der Zu- und Abzug von Menschen in großen Städten beträgt schon wöchentlich mehr oder weniger Tausende. Noch mehr Tausende kommen und gehen in Geschäften, zum Besuche und Vergnügen. Unsere höchste Civilisation nimmt sozusagen wieder einen nomadischen Charakter an. Auf den Höhen derselben ist man schon nirgends mehr recht, und zugleich überall zu Hause.

Unsere Potentaten haben in den Ländern umher Jeder Dutzende von Schlössern, die Kaufmanns- und Industriefürsten ihre Landsitze, städtischen Privatwohnungen und unter den verschiedenen Längen- und Breitengraden Filiale ihrer Weltgeschäfte. Kurz, ein ewiges Kommen und Gehen Tag und Nacht das ganze Jahr hindurch. Nirgends mehr eine ruhige, feste Heimath mit ihrer Gemüthlichkeit und Herzensbefriedigung. Die Miethscasernen in den großen Städten haben selbst etwas Beunruhigendes, so daß mindestens alle halbe Jahre massenhafte Aus- und Einwanderungen aus einer in die andere Wohnung entstehen und in Berlin allein während der ersten April- und Octobertage mehr Menschen ziehen, als einst Moses Kinder Israels aus Aegypten führte. In Amerika ist es bereits so weit gekommen, daß nicht nur viele Menschen, sondern auch ganze Familien gar nicht mehr in Privatwohnungen, sondern blos in prachtvollen Hotels aus- und einziehen.

Der Nomadencharakter unserer höchsten Civilisation und diese Tag und Nacht ununterbrochen waltende Freizügigkeit erhebt unsere Hôtels zu einer der wichtigsten, unentbehrlichsten und segensreichsten Institutionen unserer Zeit, besonders seitdem die Ruhe, Bequemlichkeit und Sicherheit einer wirklichen Heimath in diesen Miethscasernen unserer großen Städte mehr oder weniger zur Fabel geworden sind. Unsere Unterschrift auf einem der sogenannten Fuhrbach’schen Miethscontracte in Berlin ist unter Umständen schlimmer, als wenn wir mittelalterlich Leib und Seele mit Blut dem Teufel verschrieben. Der Wirth mit etwas teuflischem Charakter hat damit die Gewalt, uns zu jeder Tages- und Nachtzeit körperlich und geistig zu quälen und uns sogar zu exmittiren. Was er nicht thut, besorgen nicht selten die aus allen Bildungs- und Rohheitsgraden zusammengewürfelten Mitbewohner unter, neben und über uns; dazu die Leierkasten, Bettler, Diebe, Einbrecher, Einkommen- und Miethssteuersammler, die bösen Geister, welche durch Schlüssellöcher, aus Abzugsröhren und Gossen vor unseren Fenstern sich als zehrende und würgende Aftermiether eindrängen. In diesen Höllen zwischen unseren vier Pfählen sind wir immer auf lange Zeit gebunden.

Das Hôtel in neuester Vollkommenheit empfängt uns schon auf dem Bahnhofe hochachtungsvoll und ladet uns in den bequemen Salon-Omnibus ein. Vor der prachtvollen Hôtelthür nehmen uns und unser Gepäck flink und gewandt dienstbare Geister auf und heben uns wie durch Zauberei zu der Etage empor, in welcher wir nach unserer Wahl und unseren Mitteln auf Tage oder blos Stunden in unbeschränkter Freiheit wohnen wollen. Wir finden sofort jede Bequemlichkeit eines eigenen Heerdes und zwar meist in der vollkommensten Verwendung aller betreffenden Erfindungen für unser persönliches und häusliches Wohl, die elektrische Klingel, den schnellen Erfolg der Haustelegraphensprache, die beste Gesellschaft oder ungestörte Einsamkeit, ein Bad, Lesezimmer, einen künstlerisch gedeckten und mit einer Auswahl der schmackhaftesten Speisen und Getränke bedienten Tisch und überhaupt mehr, als wir in der theuersten und besten Wohnung des aristokratischsten Stadttheils erwarten dürfen. Dies gilt freilich bis jetzt nur von einer geringen Zahl der ersten unter den Hôtels erster Classe, aber bei dem Wetteifer auf diesem Gebiete können wir hoffen, daß sich diese und andere Vorzüge immer allgemeiner einfinden und namentlich auch die sogenannten Familienhôtels soweit entwickeln werden, bis die Gemüthlichkeit eigenen Heerdes und die Schwungkraft unbeschränkter Freizügigkeit sich darin miteinander vereinigen.

Ich weiß nicht, wie viele Hôtels bis jetzt diesem Ideale am nächsten kommen, aber ich kenne wenigstens zwei, welche dafür als Muster gelten. Die berühmten riesigen Paläste Amerika’s haben blos den Vorzug noch größeren Umfanges, wogegen ihnen viele innere Schönheiten für das Gemüth und persönliche Genügen abgehen. Sie haben z. B. noch Treppen. Diese sind im Vergleich zu meinen Idealen in Brighton und Berlin ein überwundener Standpunkt. Statt der Treppen verlange ich Salon-Omnibus zwischen den verschiedenen Etagen, wohl verstanden, nicht für jedes Hôtel, welches mich aufnimmt, sondern für meine Ideale von Hôtels. Ich rechne auf diesem Gebiet auch gleich unsere besten Privathäuser und besonders große Industriewerkstätten hinzu, weil ich dann für die künftige Menschheit ungeheure Summen von Zeit und Muskelkraft für bessere Zwecke spare.

Men erstes verwirklichtes Ideal-Hôtel erhebt sich Angesichts des wohlthätigen Golfstromes vom atlantischen Meere her zwischen England und Frankreich in der See-Vorstadt Londons, Brighton, wo die Aristokratie des Standes und Geldes nach ihren Herbstausflügen bis zur Wiedereröffnung des Parlaments zu überwintern liebt. Es ist nicht nur das größte, sondern auch das vollkommenste Hôtel Englands, mit den Untergeschossen zwölf Etagen hoch, an welchen unzählige Balcons und Veranda’s malerisch heraushängen und eine wundervolle, unbegrenzte Aussicht über die Wogen des Meeres und die darauf schaukelnden Schiffe und Dampfer gewähren. Von den Schönheiten und Bequemlichkeiten im Inneren will ich nicht weiter reden, da sie vor anderen Hôtels keine auffallenden Vorzüge bieten, aber die Treppenlosigkeit durch alle Etagen und Abtheilungen des riesigen Bauwerks hindurch und deren Ersatz durch fünf hydraulische Omnibusse verdient Anerkennung und Nachahmung.

Hydraulische Omnibusse? Was bedeuten diese aus zwei alten Sprachen zusammengekoppelten Worte? Den Omnibus auf der Straße kennen wir, aber solche Fahrzeuge im Hause auf und ab werden Vielen unerklärlich vorkommen. Und nun gar hydraulische, d. h. durch Wasserkraft auf- und abgezogene Omnibusse! Wir wollen die Sache auch für die Uneingeweihten anschaulich zu machen suchen. Eine eingeschlossene Säule von Wasser sucht mit fabelhafter Gewalt des Druckes nach unten ihr Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Dieser Druck ist desto größer, je höher die Wassersäule. Durch künstlichen Druck auf eine eingeschlossene Masse Wasser läßt sich der natürliche ersetzen, und wir gewinnen dadurch die für Industrieen aller Art so gewaltige und segensreiche hydraulische Presse. Im Brighton-Hôtel liefert ein bis zur Höhe des Daches mit Wasser gefüllter Thurm alle Pferdekräfte für die fünf Salon-Omnibusse darin. Jede Cisterne auf dem Boden der Häuser mit Wasserleitung kann uns durch geschickt angebrachte Röhren unaufhörlich still und unermüdlich dieselben Pferdekräfte liefern, die wir jetzt durch Auf- und Absteigen auf Treppen in Stiefelsohlen, Beinmuskeln und Lungen mit Zeitverlust vergeuden. Der Wasserthurm im Brighton-Hôtel besteht eigentlich auch blos aus einer großen Cisterne unter dem Dach, welche durch die Wasserwerke der Stadt beständig gefüllt erhalten wird. Der dadurch oben gewonnene Wasserdruck wird durch eine Röhre bis unter die Erde herabgeleitet und durch anderweitige Röhren nach Art der Heber wieder zu Bewegungen nach oben verwendet. Auf diese Weise gewinnt man gleichsam immer zugfertige Pferdekräfte nach oben und unten, welche wieder durch Röhren, Ventile und klingelschnurartige Züge ganz nach Belieben immer sofort oben oder unten angespannt werden können. Die Wagen oder Omnibusse dazu bestehen aus Salons, die schöner und bequemer sind, als die Coupes erster Classe auf unseren Eisenbahnen. Sie bewegen sich innerhalb eines Schachts ruhig und geräuschlos auf und ab und treffen in jeder Etage auf eine thürartige Oeffnung, durch welche man ohne Weiteres aus- und eingehen kann. Bewegung und Stillstand wird durch bloßes Ziehen an einer Art von Klingelschnur immer augenblicklich bewirkt. So lange man zieht, steigt oder fällt der Omnibus und steht augenblicklich still, so wie man losläßt. In weniger als einer Minute können acht Personen gleichzeitig fünfundsechszig Fuß hoch oder tief steigen; der Aufenthalt in jeder Etage nimmt in der Regel nur einige Secunden in Anspruch.

Dies ist der Omnibus für die Gäste. Ein zweiter bewegt sich von den unteren Geschossen bis in die obersten in einer Höhe und Tiefe von sechsundsiebenzig Fuß für die Dienerschaften und das Gepäck oder die Bestellungen der Gäste. Ein dritter läuft von der Küche aus mit den Kellnern und den Kunstwerken der Kochkunst für die Gäste aller Etagen. Der vierte Omnibus bewegt sich zwischen dem unterirdischen Thee- und Kaffeedepartement und dem allgemeinen Gesellschafts-, Kaffee- und Rauchzimmer auf und ab. Der fünfte, kleinste endlich hat das ausschließliche Vorrecht, Zeit und Muskeln zwischen dem Weinkeller und der Schenkbarre zu sparen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_590.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2022)