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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Es kommt nicht selten vor, daß starke Böcke kein Gehörn ausrecken, sondern nur Knöpfe ansetzen, namentlich zeigte sich dies im vorigen Jahre hier bei Alsfeld und in manchen anderen Gegenden. Von Mißbildungen des Gehörns („widersinnigem Gehörn“) gibt es im Freileben des Bocks, noch mehr aber in seinem Park- oder sonstigen Gefangenleben Beispiele der merkwürdigsten und mannigfaltigsten Art. Die Ursache ist meist in Verletzungen am Gehörn selbst zu suchen, welche sogar absichtlich von Solchen vorgenommen werden, welche einen besonderen Geschmack an Absonderlichkeiten haben. Sie werden aber auch hervorgerufen durch Verletzungen an den Geschlechtstheilen oder dem „Kurzwildpret“, wie es die Waidmannssprache eigenthümlich und zugleich schicklich bezeichnet. In inniger Wechselwirkung erscheinen Kurzwildpret und Gehörn: das zeigt die sichtliche Einwirkung von künstlichen und zufälligen Verletzungen oder Verstümmelungen an Ersterem auf die Bildung des Letzteren. Eine Entmannung hat fast immer das förmliche Versiechen der Gehörnerzeugungskraft zur Folge; nur ausnahmsweise kommen Gehörnneubildungen bei Castraten vor, welche jedoch immer als nicht zur Reife kommende Mißbildungen erscheinen. Auffallend sind hingegen die von uns mehrfach wahrgenommenen starken Gehörne bei kränkelnden Rehböcken oder sogenannten „Kümmerern“.

Die Zeit, der Monat Mai, ist da, wo die Rehgeis „setzt“ (je nach dem Alter Mutter eines, zweier oder gar dreier Kitzchen oder Kälbchen wird). Welche rührende Sorge und treue Anhänglichkeit äußert sie da! Der Feinde sich bewußt, die das zarte Leben des Lieblings bedrohen, wagt sie es nur, sich auf Augenblicke von dem Lagerplatz zu entfernen. Mit zitternder Angst vernimmt sie die Stimme des Räubers aus dem Walde oder aus der Luft, und wenn gar ein verkrüppeltes Kälbchen „gesetzt“ ist, deren eines ich vor mehreren Jahren durch Vermittlung des verewigten Roßmäßler in „Haus der Heimath“ abbilden ließ, wie müht sich da die Mutter ab, sein Verlangen zu stillen. Ueberall sind wunde Stellen am Boden wahrzunehmen, wo die Geis das „Gesäuge“ durch ihre Lage dem Kälbchen darzubieten suchte. Das Rufen des unbehülflichen und nicht zur Genüge gestillten Thierchens erfüllt den Waldraum und mehrt von Stunde zu Stunde die Gefahr. Der am meisten zu fürchtende Raubmörder vernimmt das „Fiepen“, welches ihn lüstern macht und ihm den Stand der Rehfamilie verräth. Doch nicht hier, wo er leichteres Spiel hat, sondern einem gesunden Kälbchen, welches der Geis zur Aeßung folgt, gegenüber mag er jetzt auf der Waldbühne erscheinen.

Auf einer Waldwiese, die einerseits von einer jungen Buchenheege, andererseits von Buchenhochwald begrenzt wird, erwarten wir einen starken Rehbock mit „ausgerecktem Gehörn“. Dort die dichtbelaubte junge Eiche in der heimlichen Waldwiese mag uns beim Ansitz decken

Immer weiter dehnen sich die Schatten aus, immer voller und lebhafter wird der Vögel Abendgesang. Plötzlich hören wir den störenden Schrei des im Dickicht aufgeschreckten Eichelhehers, und im nächsten Augenblick sehen wir ihn schon uns zu Häupten streichen, er bemerkt uns als scharfsichtiger Späher, macht, abermals schreiend, eine Wendung und strebt dann weiter dem Hochwalde zu. In der Richtung von jener Stelle her, wo der wachsame Vogel aufgeschreckt wurde, vernehmen wir ein leises Rauschen, dann zeigt sich, vorsichtig schreitend, eine alte Rehgeis. Am Rande der Heege bleibt sie stehen, sichert eine Weile und tritt nun etwas vertrauter auf die Wiese. Ihr folgt unmittelbar auf der Fährte das liebliche, buntscheckige Kälbchen. Mit dem eintretenden Gefühle der Sicherheit zeigt sich alsbald unbefangener und sorgloser der Verkehr zwischen Beiden. Während das Kälbchen die unerschöpfliche Quelle der Nahrung am mütterlichen „Gesäuge“ sucht, ergeht sich die Geis in allerlei Zärtlichkeiten gegen den kleinen Schützling oder „äßt sich“, von Zeit zu Zeit nur eine wiederkehrende, auffälligere Wachsamkeit nach verschiedenen Richtungen hin verratend. Urplötzlich wirft sie den Kopf in die Höhe, und gleich darauf hören wir dröhnende Sprünge und Rauschen, worauf der erwartete Bock in hohen Sätzen auf der Wiese erscheint. Erregt beugt er sich vor, sichert, und ehe ich mich entschließe, die Büchsflinte zu heben, stampft er auf, "schreckt“ (schreit) und „wird flüchtig“. Unmöglich kann er uns wahrgenommen haben, denn wir sitzen gedeckt und haben guten Wind. Aber siehe, nun wird auch das alte Reh unruhig. Wie es zittert! - Was raschelt von Neuem in den Hecken? Ein Fuchs! Dort schleicht er eben am Rande des Dickichts auf das Reh zu. Wie er mit den Augen blinzt und das untrügliche „Gehör“ regt, wie er jetzt thut, als ob er die friedlichsten Gedanken habe! Er kratzt, beleckt sich, wirft sich nieder in das Gras und wälzt sich auf den Maulwurfshaufen umher. Dabei schielt er beständig nach dem alten und jungen Reh, und sicherlich entgeht ihm keine ihrer Bewegungen. Es scheint, als wolle sich das alte Reh beruhigen, denn schon senkt es wieder den Kopf, um sich zu äßen. Da springt der Fuchs mit rüstigen Sätzen nach dem Kälbchen, das in sich zusammenfährt und fiepend bei der Mutter Schutz sucht. Wie ein Pfeil fliegt diese zwischen das Kleine und den Mörder und schlägt letzteren mittelst der Vorderläufe tapfer in die Flucht.

Wiederum sucht der Fuchs das alte Reh in Sorglosigkeit einzuwiegen. Zuweilen hat es den Anschein, als seien ihm alle Glieder am Leibe zerschlagen, so schlotternd, schleifend und trollend ist sein Gang. Er fängt an, sein ausersehenes Opfer zu umgehen, aber die treue Beschützerin weiß immer den rechten Standpunkt zur Abwehr zu wahren. Der immer lüsterner Werdende wiederholt seinen Angriff und bietet alle Kraft, Erfahrung und List auf, um zu seinem Ziele zu gelangen. Er läuft und springt in allerlei Wendungen, aber immer wieder muß er dem hartnäckigen Widerstand des alten Rehes weichen. Dieses entwickelt die ganze Schärfe seiner Sinne, die ganze Gewandtheit seines Körpers und bekundet einen so festen, aufopfernden Muth, daß man nichts mehr von der ursprünglichen sanften Natur an ihm wahrnimmt. Wahrlich ein rührendes Bild der zärtlichsten Mutterliebe! Wir sind empört über die Fuchsnatur und folgen mit ängstlich pochendem Herzen der weiteren Entwickelung des Schauspiels. Das Spannende, welchen Ausgang der Kampf nehmen werde, und der Gedanke an Bereicherung unserer Erfahrungen halten mich vom Gebrauch der Waffe ab. – Sieh' da, was regt sich dort im Gehege? Es schleicht ein Thier durch das hohe Gras im Rücken der beiden Rehe. Ein zweiter Fuchs! Der Gauner hat mit scharfen Sinnen die Gelegenheit ausgewittert und will sich jetzt mit gleichen Mordgedanken zu dem sonst Gemiedenen seiner Sippschaft schlagen. Doch schon hat das alte Reh den neuen Feind entdeckt, denn es wendet den Kopf nach ihm hin, und kaum hat er den ersten Sprung aus dem Versteck hervor nach dem Kälbchen gethan, so setzt die Mutter über dieses hinaus und schlägt auf den Anstürmenden wacker los. Der andere, schon etwas abgehetzte Fuchs sieht in seinem Gefährten einen Gehülfen seines Unternehmens (offenbar verstehen sich die beiden Räuber sogleich) und greift ermuthigt nochmals an. Aber wie vom Dämon besessen, springt das Reh stets zur rechten Zeit vor, der Raubgier stellt steh die immer regere Mutterliebe entgegen, wächst und wächst, bis das geängstete Thier von den erstaunlichen Anstrengungen nach und nach ermattet. Bei der eintretenden Schwäche der Geis wächst der Füchse Zuversicht und Dreistigkeit. Schon fürchten sie nicht mehr so sehr, wie anfänglich, die Schläge, und der Augenblick der Entscheidung naht.

Da donnert ein Schuß aus der gehobenen Büchsflinte, und wie vom Blitz erschlagen, sinkt der stärkere Fuchs nieder, während der schwächere der Dickung zueilt. Rasch wird der Schrotlauf auf ihn gerichtet und glücklich auch er noch erlegt. Wir eilen aus die Beute zu. Geis und Kälbchen sind im Geheege verschwunden. Wir überzeugen uns, daß die Kugel einen männlichen und die Schrote einen weiblichen Fuchs erlegt haben. Du hast es verdient, treue Mutter, von solchen Plagegeistern befreit zu werden, und nun kannst du mit deinem Kleinen vertraut zur Aeßung ziehen.

Diese tapfere That der Mutterliebe konnte nicht schöner verherrlicht werden, als es durch den Stift unsres Künstlers geschah.

Hundertfach zufriedener, als wenn wir den Bock erlegt hätten, machen wir uns über dessen Feigheit lustig, mit der er unbekümmert um die Drangsal des Sprößlings und der todesmuthigen Vertheidigerin desselben in einen anderen District „flüchtig wurde“.

Karl Müller.

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