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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

vertheidigen kann! … Die Frau liegt still und stumm unter der Erde; sie muß die ganze, furchtbare Last der Schuld bis in alle Ewigkeit auf sich wälzen lassen, während sie vielleicht bei Lebzeiten viele Milderungsgründe in die Wagschale hätte werfen können!’ … Nein, mein Kind,“ fuhr er nach einer kurzen Pause mild fort, während welcher er vergebens sich bemüht hatte, das Mädchengesicht zu erforschen, das sich hinter den schmalen Fingern verbarg, „so rasch und rücksichtslos dürfen wir den Knoten nicht lösen, wenn wir uns nicht selbst der schwersten Sünde schuldig machen wollen. Es wird im Gegentheil noch so manches Jahr vergehen müssen, bis das erschlichene Erbe wieder in die rechtmäßigen Hände übergehen kann. Bis dahin gilt es, Opfer zu bringen, – sie werden übrigens nicht allein von Dir, sondern auch von mir verlangt, und ich füge mich freudig. … Arnsberg, das ich auf die rechtmäßigste Weise für baare dreißigtausend Thaler an mich gebracht habe, gehört auch in jene Erbschaftsmasse – ich werde testamentlich das Fürstenhaus als Erben des Gutes einsetzen und damit die Mama um ein bedeutendes Capital dereinst verkürzen – Du siehst, daß auch wir verurtheilt sind, für den Namen Völdern und das Andenken Deiner Großmutter zu leiden!“

Die junge Dame schwieg beharrlich – ihr verhülltes Gesicht sank immer tiefer auf die Brust.

„Und so wie ich, hat auch Deine Mutter, Deine gute, unschuldige Mutter, gedacht – das Vergehen darf nur stillschweigend gesühnt werden,“ sagte der Minister weiter. „Sie hat in jener Nacht, am Sterbebette des Prinzen knieend, das Unrecht mit ansehen müssen – sie ist durch das Leben gewandelt, das schlimme Geheimniß tief in der Brust – nie hat sie gewagt, die Großmama an den Vorgang zu erinnern, sie war zu schüchtern; aber bei jedem Kind, das ihr der Tod genommen, hat sie sich schaudernd gesagt, das sei das gerechte Walten der Nemesis! … Kurz vor ihrem Hinscheiden habe ich aus ihrem eigenen Munde erfahren, was ihre lieben Augen oft so unsäglich traurig und schwermüthig gemacht – ich darf Dir wohl sagen, mein Kind, ich habe oft und schwer unter dieser stummen Klage gelitten –“

„Ich möchte das Ende wissen, Papa!“ stieß Gisela hervor. Sie wollte tausendmal lieber die Stimme dieses Mannes drohend, zornig, schneidend vor Ingrimm, als in diesem vertraulich schmeichelnden Flüsterton hören.

„Also kurz und bündig, meine Tochter,“ sagte er eiskalt. Er lehnte sich steif und vornehm in die Kissen zurück. „Wenn es Dir so gefällt, werde ich einfach als Beauftragter referiren. … Deine Mutter hat mich autorisirt, Dir, als der einzigen Erbin des Völdernschen Besitzthums, im neunzehnten Lebensjahre das Geheimniß mitzutheilen, gleichviel, ob die Großmama diesen Zeitpunkt erlebe oder nicht. Wenn ich um ein Jahr vorgreife, so trägst Du selbst die Schuld – es gilt, Thorheiten Deinerseits vorzubeugen. … Deine Mutter hat ferner gewünscht, daß Du in strengster Abgeschiedenheit erzogen werdest jetzt wirst Du wissen; daß nicht allein Deine Kränklichkeit den einsamen Aufenthalt in Greinsfeld nöthig gemacht hat. … Der letzte Wille Deiner Mutter verlangt ein völlig entsagendes Leben von Dir, Gisela – Du wirst ihn ehren! Der Gedanke, daß durch Dich dereinst das schwere Unrecht ausgeglichen werden könnte, ohne daß der theure Name Völdern befleckt werde, hat ihr noch im letzten Augenblick ein Lächeln der Befriedigung abgerungen.“ …

Er zögerte; es wurde ihm jedenfalls nicht leicht, den Schwerpunkt der Mittheilungen in die geeignete Form zu kleiden.

„Wären wir in A.,“ fuhr er etwas rascher fort, während er zwischen den feinen Fingerspitzen die Enden seines Lippenbartes drehte, „dann bedürfte es meiner Auseinandersetzungen nicht – ich gäbe Dir die Papiere, die Deine Mutter in meine Hand gelegt hat; sie enthalten Alles, was mir jetzt Mühe und – Schmerz macht, auszusprechen. … Deinem jungen Leben werden von nun an engere Grenzen gezogen, als bisher – armes Kind! … Der vollständige Ertrag jener Güter, die Du unrechtmäßiger Weise besitzest, soll für die Armen im Lande verwendet werden; ich bin ausersehen, sie zu verwalten; dagegen habe ich die Verpflichtung Dir über Heller und Pfennig alljährlich Rechenschaft abzulegen. Bei Deinem Eintritt in die Abgeschiedenheit sollst Du mich scheinbar als Deinen Erben bezeichnen; ich aber habe sodann in meinem Testament die fraglichen Güter als ,dankbarer Freund’ dem Fürstenhause zu hinterlassen.“

Die Hände des jungen Mädchens waren vom Gesicht niedergesunken. Sie wandte mechanisch langsam den Kopf, und die erloschenen Augen hefteten sich starr auf den Mund des Sprechenden, der ein leises nervöses Beben in den Winkeln nicht zu unterdrücken vermochte.

„Und wie heißt die Abgeschiedenheit, in die ich eintreten soll?“ fragte sie, jedes Wort schwer betonend.

„Das Kloster, meine liebe Gisela! … Du sollst auch für die Seele Deiner Großmutter beten und sie von ihrer schweren Schuld erlösen.“

Jetzt schrie sie nicht auf – ein irres Lächeln flog über ihr Gesicht.

„Wie, in’s Kloster will man mich stecken? Zwischen vier enge, hohe Mauern? Mich, die ich im grünen Wald aufgewachsen bin?“ stöhnte sie. „Ich soll, so lange ich lebe, nur das eingeschlossene Stückchen Himmel über mir sehen? Ich soll ein ganzes Leben lang Tag und Nacht Gebete hersagen, immer dieselben Worte, die schon in den ersten Tagen eine sinnlose Plapperei werden? Ich soll mich zwingen, nicht mehr Gottes Ebenbild zu sein, sondern eine stumpfe Maschine, der man das Herz ausgerissen und den Geist zertreten hat? … Nein, nein, nein! …“

Sie sprang auf und streckte ihrem Stiefvater gebieterisch den Arm entgegen.

„Wenn Du wußtest, was mir bevorstand, dann mußte auch von meinem ersten Denken an Alles geschehen, mich mit meiner furchtbaren Zukunft vertraut zu machen – so aber habt ihr mich meinen eigenen Gedanken und Schlüssen überlassen, und ich will Dir sagen, wie ich über das Kloster denke! … Hat sich je der Mensch von Gott und von der klaren Vernunft weit verirrt, so ist es in dem Augenblick gewesen, wo er das Kloster erfunden! Es ist Wahnsinn, eine Anzahl Menschen in ein Haus zusammenzustecken, damit sie Gott dienen! … Sie dienen ihm nicht, sie verdrehen seine Absichten, denn sie lassen die Kräfte in Nichtsthun verwelken, die ihnen zur Arbeit gegeben sind. Sie schlagen das Pfund todt, das er ihnen hinter die Stirn gelegt hat, und je weniger sie denken, desto hochmüthiger sind sie und halten ihre Stumpfheit für Heiligkeit – sie arbeiten nicht, sie denken nicht, sie nehmen von der Welt und geben ihr nichts zurück – sie sind ein isolirter, unnützer, träger Menschenhaufe, der sich von den Arbeitsamen füttern läßt. …“

Der Minister stand auf; sein Gesicht war fahl wie das einer Leiche. Er ergriff den Arm des jungen Mädchens und bog ihn nieder.

„Besinne Dich, Gisela, und bedenke, was Du lästerst. Es sind geheiligte Institutionen –“

„Wer hat sie geheiligt? Die Menschen selbst. … Gott hat nicht gesagt, als er den Menschen schuf: ,Verstecke dich hinter Steinen und verachte alles, was ich der Welt Schönes und Herrliches gegeben habe?“

„Schlimm für Dich, mein Kind, daß Du in Dein neues Leben eine solche Philosophie mitbringst!“ sagte der Minister achselzuckend. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr. Einen Moment maßen sich die vier Augen, als wolle Jedes die Kraft des Anderen angesichts des ausbrechenden Sturmes prüfen.

„Ich werde nie in dieses neue Leben eintreten, Papa!“ Diese Erklärung, die der blasse Mund des jungen Mädchens so entschieden und unumwunden hinwarf, entzündete eine wilde Flamme in den weitgeöffneten Augen Seiner Excellenz.

„Du wärst in der That so entartet, den Wunsch und Willen Deiner sterbenden Mutter zu mißachten?“ fuhr er auf.

Gisela trat vor das Bild ihrer Mutter?

„Ich habe sie nicht gekannt, und doch weiß ich, wie sie gewesen ist,“ jagte sie. Ihre Lippen zuckten, und ihr ganzer Körper fieberte, aber die Stimme klang fest und sanft. „Sie ist mit ihren kleinen Füßen über die Wiesen gelaufen und hat Blumen gesucht, so viel, so viel, daß die Hände sie nicht mehr fassen konnten. Sie hat zum blauen Himmel aufgejubelt und hat Alles geliebt, den Sonnenschein, die Blumen, die ganze, weite Welt und die Menschen, die d’rin sind! Hätte man sie in ein finsteres, kaltes Haus gesteckt, sie würde mit den Händen verzweifelnd gegen die Mauern geschlagen haben, um sich zu befreien. … Und diese glückseligen Augen sollen mit dem finstern Wunsch auf mir geruht haben, das arme, kleine, unschuldige Leben dereinst lebendig eingemauert zu wissen?“

„Du siehst sie hier als Braut, Gisela! Da ist freilich das

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