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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 20.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Einen Moment starrten die Anwesenden auf der Wiese schweigend Gisela nach, dann aber schwirrten die Stimmen aufgeregt durcheinander.

Der Fürst sandte zuvörderst einen der Herren nach mehreren Wagen in das weiße Schloß; er wollte, begleitet vom Minister und von den Herren seines Gefolges, in höchsteigener Person den Schauplatz des Brandunglücks besichtigen – der alte Herr entwickelte plötzlich sehr viel Hast und Lebendigkeit.

„Aber, mein lieber Baron Fleury, waren Sie nicht ein wenig zu hart und grausam gegen Ihre reizende Pflegebefohlene?“ sagte er vorwurfsvoll zu dem Minister, während er sich anschickte, die Wiese zu verlassen, um nach dem Greinsfelder Fahrweg zu gehen, wo er einsteigen wollte.

Ein kaltes Lächeln zuckte flüchtig über das fahle Gesicht Seiner Excellenz.

„Durchlaucht, in meiner öffentlichen Stellung bin ich gewohnt, im ehernen Panzer einherzuschreiten – ich wäre ja längst eine Leiche, wenn ich nicht die Pfeile der Berurtheilung an mir abprallen ließe,“ entgegnete er leichtscherzend. „Sehr viel anders organisirt bin ich dagegen als Privatmann,“ fügte er ernster hinzu. „Ein Vorwurf, noch dazu aus dem Munde Euer Durchlaucht, schmerzt mich – ich leugne es nicht. … Ich habe in diesem Augenblick die niederschlagende Bemerkung gemacht, daß ich lediglich aus Liebe und Verblendung ein sehr fahrlässiger Pflegevater gewesen bin –“

„Klage Dich nicht allein an, mein Freund,“ unterbrach ihn seine Gemahlin mit süß beschwichtigender Stimme; „auch ich trage viel Schuld. So lange wir Gisela mit ihren Extravaganzen hinter den Arnsberger und Greinsfelder Schloßgartenmauern wußten, waren wir schwach genug, die grenzenloseste Nachsicht zu üben – ich habe gerade deshalb manch harten Strauß mit der Herbeck gehabt, die mehr Strenge angewendet wissen wollte.“

„Aber ich kann mit dem besten Willen diese himmelschreiende Extravaganz nicht einsehen,“ meinte die Gräfin Schliersen sehr gleichmüthig. „Ein etwas tollkühner Ritt – weiter nichts. … Im Uebrigen hatte die reizende Kleine augenscheinlich keine Ahnung von unserer Anwesenheit auf der Wiese –“

„Wenn ich Dir aber sage, liebste Leontine, daß sie im Stande ist, sich, so wie wir sie eben gesehen, auf dem Marktplatz in A. vor allem Volk zu zeigen!“ fiel ihr die schöne Excellenz ziemlich aufgeregt in’s Wort. „Sie springt von einem Extrem in das andere, leider – ich muß es abermals aussprechen – sehr oft in der Absicht, kleine Bosheiten gegenüber der Herbeck auszuüben. … Sie besteht z. B. heute darauf, in die Gesellschaft eintreten zu wollen – mein Gott, bei ihrer Krankheit ist ja das geradezu eine Lächerlichkeit – und eine Stunde später –“

„Spricht sie womöglich den unerschütterlichen Entschluß aus, in’s – Kloster zu gehen,“ unterbrach und ergänzte der Minister die Schilderung. Das sollte scherzhaft klingen, und doch legte er, fast wie unwillkürlich, einen ganz eigenthümlichen Nachdruck auf diesen Ausspruch.

Alle Damen lachten – nur die Gräfin Schliersen verzog keine Miene. Sie hatte jenen starren Ausdruck von Consequenz und Hartnäckigkeit im Gesicht, den die geschmeidigen Hofleute entsetzlich fürchteten – er war oft der Vorläufer großer Verlegenheiten für sie.

„Du betontest eben wieder das Leiden Deiner Stieftochter, Jutta,“ sagte sie, den Gegenstand des Gesprächs beharrlich festhaltend. „Sage mir einmal aufrichtig, glaubst Du denn in der That, lediglich auf den vagen Ausspruch des Arztes hin, daß dieses schöne Geschöpf mit dem lebensfrischen Teint und den urgesunden, kräftigen Bewegungen in seinen früheren Zustand zurückfallen könne?“

Die dunklen Augen der schönen Excellenz richteten sich unverhohlen in wahrhaft verzehrendem Haß auf das kaltlächelnde Gesicht der unerbittlichen Fragerin.

„In den früheren Zustand zurückfallen?“ wiederholte sie. „Ei, meine gute Leontine, wenn es nur das wäre, da wollte ich mich gern beruhigen, aber leider war Gisela noch nie hergestellt.“

„Davon habe ich mich überzeugt,“ rief sehr eifrig die Hofdame. „Die Gräfin zuckt mit dem rechten Arm noch genau so krampfhaft, wie damals, wo ich mich so entsetzlich vor ihr fürchtete.“

„Die unheimliche Bewegung hat mich auch erschreckt!“ versicherte die blasse, ätherische Blondine, und sämmtliche junge Damen bestätigten wie aus Einem Munde die traurige Wahrnehmung.

„Meine Damen,“ sagte die Gräfin Schliersen und neigte das Haupt graciös, aber mit unbeschreiblicher Ironie nach den jungen Damen hin, „Sie mögen Recht haben. Dagegen werden Sie mir gewiß nicht bestreiten wollen, daß die junge Gräfin sehr elegant und sicher zu Pferde saß, während ihre armen, kleinen zuckenden Hände das feurige Thier vortrefflich zu beherrschen verstanden – das Handhaben des Ballfächers erfordert bei Weitem nicht diesen Kraftaufwand. … Ich bin sicher, die reizenden Füßchen, die unter dem weißen Kleid hervorsahen, können auch ganz allerliebst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_305.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)