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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 6.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


5.

Noch waren die letzten stürmischen Accorde unter Jutta’s Händen nicht verhallt, als die Pfarrerin zur Thür hereinsah. Dies leuchtende, lebensfrohe Gesicht zeigte nicht die mindeste Spur des Gekränktseins – das war ein Gemüth, das rasch mit sich fertig wurde; „die können ja nicht wissen, wie einem Mutterherzen zu Muthe ist –“ hatte sie versöhnend bedacht, und damit war der Groll verflogen.

Sie rief herein, daß die Bescheerung nun vor sich gehen könne. Die kleine Gräfin erfaßte ihre Hand, Jutta schlug den Clavierdeckel zu, und Frau von Herbeck erhob sich langsam, mit einem so verbindlichen Lächeln, aus der weichen Sophaecke, als sei nie ein arger Gedanke gegen jene Frau an der Thür in ihre Seele gekommen.

Unten in seinem engen Studirstübchen saß der Pfarrer bereits am kleinen, altersschwachen Spinett. – Das war freilich kein Kopf, wie ihn die heutige Mystik auf der Kanzel sehen will. Diese Züge waren nicht abgeblaßt in der düsteren Gluth des Fanatismus; keine Spur jener eisernen Unbeugsamkeit und Intoleranz des finsteren Glaubenseiferers lag auf der Stirn, und das Haupt beugte sich nicht gegen die Brust, in dem Bestreben, der Welt ein lebendiges Beispiel christlicher Demuth zu sein – er war ein echter Sohn des Thüringer Waldes, eine kraftvolle, markige Gestalt mit breiter Brust, hellen Gesichtszügen und einer so leuchtend offenen Stirn unter dem vollen, dunklen Kraushaar, als könne kein Gedanke verborgen dahinter weggleiten. … Um ihn her standen seine Kinder, pausbackige Köpfchen wie sie drüben in der Kirche über und neben der alten Orgel als Seraphim und Cherubim schwebten. Alle die strahlenden Blauaugen hingen erwartungsvoll an dem Gesicht des Vaters. Er begrüßte die eintretenden Damen mit einer stummen Verbeugung, dann griff er voll in die Tasten, und feierlich, glockenhell setzten die Kinder ein: „Ehre sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren.“

Beim Schlusse des Verses öffnete die Pfarrerin langsam die Thür der Nebenstube, und der Glanz des Weihnachtsbaums floß heraus. Die Kinder stürzten nicht jubelnd hinüber – scheu traten sie über die Schwelle, das war ja gar nicht die liebe, alte Wohnstube, deren Wände allabendlich in dem Halbdunkel der schwach leuchtenden Talgkerze verschwanden! Der kleine Spiegel, die Glasscheiben über den wenigen Bildern strömten eine wahre Lichtfluth wider, und selbst aus den alten, mattglänzenden Ofenkacheln hüpfte ja ein Lichtlein. …

Die kleine Gräfin aber stand da mit dem Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht – das sollte ein Christbaum sein? Diese arme, kleine Fichte mit den wenigen fadendünnen Wachsstengeln auf den Zweigen? Unscheinbar kleine, rothe Aepfel, Nüsse, die das vornehme, kränkelnde Kind nicht einmal essen durfte, und einige zweifelhafte Figuren aus braunem Pfefferkuchen – das waren die ganzen Wunderdinge, die sich da droben schaukelten! Und drunten auf dem groben, weißen Tischtuch lagen Schiefertafeln, Schreibhefte, Bleistifte – lauter Dinge, die sich ganz von selbst verstehen, deshalb hätte doch das Christkindchen nicht vom Himmel herabzusteigen gebraucht! … Und doch, wie jubelten die Kinder jetzt, nachdem die Scheu überwunden war! Das stumme Befremden der kleinen Gräfin bemerkten sie nicht – sie hätten es ja nicht einmal begriffen, sie sahen auch nicht das impertinente Lächeln, das bereits beim Anstimmen des Chorals aus Frau von Herbeck’s Gesicht erschienen war und sich auch jetzt noch behauptete; erkannten doch selbst die Eltern die Natur dieses Lächelns nicht – die Mutter lächelte ja auch, als ihre kleinen Mädchen schleunigst in die neuen, buntwollenen Unterröckchen krochen und ihr sogenannter „Dicker“ schmunzelnd das „nagelneue“ Höschen an seine strammen Beinchen hielt, das sie selbst in stiller Nacht und bei verschlossenen Thüren aus dem allerersten schäbigen Candidatenfrack des Herrn Pfarrers zurechtgeschneidert hatte. Und der Vater trug das jauchzende, lallende Fritzchen auf dem Arm – er hatte vollauf zu thun, alle die Merkwürdigkeiten pflichtschuldigst zu bewundern, die Hans Ruprecht in sein Haus gebracht – ihm blieb keine Zeit, die Gesichter seiner Gäste zu prüfen.

Er zog sich übrigens, nachdem der Weihnachtsbaum ausgelöscht war, in seine Studirstube zurück; einer seiner Collegen war plötzlich erkrankt, er hatte deshalb eine Predigt mehr für die Feiertage übernommen und mußte sich noch vorbereiten.

Frau von Herbeck und Jutta hatten sich gleich zu Anfang der Bescheerung auf das Sopha geflüchtet – dort waren wenigstens die Kleidersäume in Sicherheit vor den rücksichtslosen „Pandurenfüßchen“. Nun wurde der vor ihnen stehende Tisch gedeckt; die alte Rosamunde brachte eine riesige Porcellankanne voll Thee aus der Küche, um die sie eine Schaar blinkend sauberer Steingut-Tassen gruppirte, während die Pfarrerin einen Teller voll frischgebackenen Kuchens, eine Scheibe köstlicher Butter, Honig und ein derbes Schwarzbrod hinstellte.

Die kleine Gräfin wandte sich sogleich weg von diesem

Weihnachtsschmaus – frischer Kuchen und Schwarzbrod waren ihr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_081.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)