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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Noch vor Mitternacht schritten zwei Boten durch den beschneiten, aber nun todtenstillen Wald nach dem Ort Greinsfeld, um den dortigen Arzt zu holen – ein Arbeiter vom Hüttenwerk und Sievert. In der Hüttenmeisterwohnung tobte der junge Berthold Erhardt in rasenden Fieberphantasieen – er wehrte unter Verwünschungen unausgesetzt die weißen, bittend gefalteten Hände der Gräfin Völdern von sich ab, die er vor sich auf dem Boden liegen sah mit dem langnachschleppenden gelben Haar und dem feinen Blutbächlein, das von der Schläfe herab über den schneeigen Hals und Busen rieselte. Im Waldhause aber lag Eine, für die der Gang durch den Wald umsonst gemacht wurde. Sie kämpfte den letzten, schweren Kampf fast mühelos. Die erkalteten Hände lagen unbeweglich im Schooße; in immer längeren Zwischenräumen säuselte ein fast unhörbarer Athemzug über die Lippen, und die halbzugesunkenen Lider zuckten und zitterten im letzten leisen Krampf – um den Mund aber zog sich bereits jenes fahle Lächeln, welches wir so gern als das Merkmal süßen Ausruhens und innigster Befriedigung bezeichnen. … Wo war die Seele, die vor wenigen Stunden noch mit all ihren Wunden, und noch einmal auf den Gipfel emporbrausender Leidenschaft sich erhebend, aus den nun gebrochenen Augen gefunkelt hatten? …

Jutta lag am Boden und preßte die Stirn auf das Knie der Sterbenden. In den dunklen Locken hingen noch die Tazetten, die welkend ihre weißen Blätter falteten, und die prachtvolle blaue Seidenrobe floß über die groben Dielen – sie mahnte mit jedem leisen Knistern und Rauschen grausam an den letzten Schmerz, den die Tochter dem mütterlichen Herzen zugefügt und der sich nicht mehr abbitten, nicht mehr sühnen ließ.


4.

Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingen’s sterbliche Ueberreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Embleme, wie sie, in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zweck dieses Bilderschmuckes, der selbst Angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das modernde Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen, als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen. …

Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke nivellirend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes, schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, das Piedestal einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und fluthete Leben in dem satten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rothkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelnden Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender, als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind. …

Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dies einsame Grab wünschen lassen.

Noch an demselben Tage, wo das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben, bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in der Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte. … So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Mann lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugethan gewesen, war nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken hatte auf der weiten Gotteswelt nun Niemand mehr, als ihn; und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm hergeschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all’ dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die todte Mutter. … Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, thränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten! … Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich, wie an die Thatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal betheuert, daß sie ihn „unendlich liebe“, und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen? …

Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Clavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei „Pfarrers“ gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgeräth – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armseligen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Candidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und dasselbe bei Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheirathet hat. … Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Thurmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradirung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kaltwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinnst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen Manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor Altem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein seltengesehenes Schauspiel.

Sobald die Sonne erloschen, dämmerten drüben in dem ziemlich entferntliegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Corridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchflutheten – so war selbst zu Prinz Heinrich’s Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibule herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrthen- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrich’s Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das Alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!

Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewege sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war. … Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheirathet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger, glühender Neigung und, wie man

wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_051.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)