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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Der Alte führte uns vor das ehemalige Krankenhaus des Klosters, das in einem Garten lag, der rings von einer hohen Mauer umschlossen war. Hier zeigte er nach einem Fenster im zweiten Stock.

„Von dort oben,“ sagte er, „ist der Pater Roman herunter gekommen, ohne Stange, ohne Strick, ohne Leiter. Und da unten waren damals viele kleine Gärtchen, jedes einzelne mit spitzigen Latten eingehegt. Das hat er genau gewußt: er hätt’ sich lebendig gespießt, wenn er herabgefallen wäre. O, warum haben Das die Heiligen gelitten, daß der Teufel ihm hat helfen dürfen, den in Ewigkeit Ver –“

„Versündigt Euch nicht, alter Vater!“ unterbrach Heeringen, der die Höhe schaudernd noch immer betrachtete, den Eiferer, um ihn zu besänftigen.

Der aber fuhr noch heftiger fort: „Gnädiger Herr, mit Verlaub, Sie sind ein Lutherischer und verstehen Das nicht. Meinetwegen mag die ganze Welt lutherisch werden – wenn aber ein Benedictiner von Banz aus der heiligen Kirche wie ein Dieb entspringt und geradewegs in’s ärgste Ketzerland läuft, nach Sachsen hinein und auf eine Schule, wo sie, wie alle Leute sagen, am schlimmsten sind, da muß ihn Gottes Fluch verfolgen durch das ganze Leben –“

„Alter, Alter,“ rief da Heeringen in großer Erregtheit, „flucht doch einem armen Todten nicht!“

„Was? Roman ist todt?“ fragte erschrocken und halb ungläubig der Alte, und mit bewegter Stimme versicherte es ihm Heeringen:

„Ja, alter Vater. Vor wenigen Monaten, am fünfzehnten Januar, haben sie in Jena den sechsundsiebenzigjährigen Professor der Philosophie Dr. Johann Baptist Schad in einem Armensarge begraben. Und nun geht, alter Vater, mit versöhnterem Herzen und überlaßt den letzten Richterspruch Dem dort droben.“ Er reichte dem greisen Mann die Hand; der drückte sie ihm heftig. Offenbar betroffen von der Todesnachricht, brachte er kein Wort mehr hervor, sondern nickte nur wie still bejahend und schlich dann, von Zeit zu Zeit den grauen Kopf schüttelnd, aus dem Garten.

Hippolyt Schauffert.


Wir Beide eilten zur sogenannten Terrasse. Die Banzer Terrasse, ein basteiartiger Vorbau vor der Seite der Kirche, wo der Banzberg steil zum Mainthale abfällt, ist weit und breit berühmt als Standpunkt reizendster Umschau im Paradiese Frankens. Heute waren wir von letzterer schon auf dem Thurme gesättigt und durch den Glöckner vom Genuß der Natur zur Betrachtung eines Menschenschicksals hingeleitet. Wir suchten uns ein traulich Plätzchen; fühlten wir uns doch Beide mächtig angeregt, ich zum Hören und Heeringen zum Mittheilen über die Leidensgeschichte eines in den Banden unglaublicher Seelentyrannei nach Erkenntniß und Freiheit ringenden Geistes.

„Sie, junger Freund,“ – begann Heeringen, „können sich schwerlich einen Begriff machen, bis zu welcher Höhe die religiöse Schwärmerei besonders in denjenigen Theilen Deutschlands, wo, wie hier in Franken, Katholiken und Protestanten hart neben einander wohnen, damals getrieben worden ist und – Gott besser’s! – ja noch getrieben wird. Der arme Schad liefert uns nur ein Beispiel davon, das eben offenkundig geworden ist. Die Erziehung zum starrsten Glauben begann für ihn schon in seinem Vaterhaus zu Mürsbach im Itzgrund. Die Lehre, daß alle Ketzer, ohne nur irgend denkbare Ausnahme, in Ewigkeit verdammt seien, wurde ihm täglich eingeschärft. Wie unerschütterlich streng sein Vater dies trieb, sehen wir an dem einen Vorfall. Ein bildschönes lutherisches Mädchen war kurz nach der Confirmation gestorben. Der damals siebenjährige Knabe Schad war untröstlich darüber, daß auch dieses gute Kind verdammt sein solle. Da belehrte ihn der Vater so: ‚Wäre dieses Mädchen nur ein Vierteljahr eher gestorben, so wäre sie ganz gewiß selig geworden. Allein da sie vor einem Vierteljahr das erste Mal von ihrem Pfaffen den unheiligen Brocken (das Brod im Abendmahl!) genommen, so ist sie verdammt, und das mußt Du glauben, wenn Du nicht selbst ewig verdammt sein willst?‘

Neun Jahre alt kam der Knabe als Chorsänger hieher in’s Kloster, und wie die junge Seele hier erfüllt wurde von den Wundern der Heiligenlegenden und dem Glauben an eine durchaus sündige und verlorene Welt, durch welche allein der Priester und Mönch rein hindurch zur ewigen Herrlichkeit eingehe, das hat er in Bamberg, wo er vom vierzehnten Jahre an studirte, durch die That bewiesen. Trotz der an der Hand der Jesuiten eifrig getriebenen klassischen Studien und musikalischen Uebungen blieb sein Geist in religiöser Hinsicht so verdüstert, daß er sich dort heimlich eine Geißel und ein Cilicium (einen Bußgürtel) angeschafft und nächtlich, nach Art der Heiligen, die scheußlichsten Selbstpeinigungen an sich verübt hat, um die mit der körperlichen Entwickelung aufsteigenden sinnlichen Regungen in sich abzutödten. Ja, um ein für allemal mit diesem Theil des Irdischen fertig zu sein, wählte Schad als siebenzehnjähriger Jüngling die heilige Maria zu seiner Braut und vermählte sich im Geiste förmlich mit ihr. Er kaufte sich einen silbernen Ring und opferte denselben dem Wunderbilde der Madonna, das in der Collegienkirche zu Bamberg aufgestellt ist. Zu diesem Trauungsacte hatte er sich durch Beichte und Abendmahl eingeweiht und er legte dabei heimlich das Gelübde der ewigen Jungfrauschaft ab, um sich selbst in die Unmöglichkeit zu versetzen, seine eheliche Verbindung mit der heiligen Jungfrau-Mutter Maria je wieder aufzulösen.

Diese gefährliche geistige und geistliche Spielerei hatte die schlimmsten Folgen. Die im Heiligkeitshochmuth verachtete menschliche Natur rächte sich; was durch die wunderliche stille Hochzeit unterdrückt oder gar vernichtet werden sollte, erwachte nun erst recht, und Schad, welcher als Weltpriester zur Ketzerbekehrung hatte in die Welt hinaus ziehen wollen, entfloh dem unerträglichen Kampfe endlich in einen Beichtstuhl, aus dem ihm der Rath entgegenscholl: vor der höllischen Schlange der Verführung sich in das einzige ihr verschlossene Paradies, in den Klosterstand, zu retten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_009.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2022)