Seite:Die Gartenlaube (1868) 804.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Gedanken. Daß sie ihm gehörte und er ihr, schien ihm so selbstverständlich und natürlich, als hätten sie sich’s schon hundertmal versichert, und nur das Eine wunderte ihn, wie er so lange hatte leben können, ohne selbst daran zu denken, daß es ja gar nicht anders sein könnte. Bei dem Gedanken an den Todten, der sich eingebildet hatte, das Mädchen die Seine nennen zu können, überkam ihn eine förmliche Eifersucht. Nicht ein Haar von ihrem Haupte durfte einem Anderen gehören, als ihm. Dann fuhr er sacht mit der Hand über ihre braunen Flechten und starrte ernsthaft in die Windung ihres kleinen blassen Ohrs, das die Werbung mitangehört, aber sich so standhaft dagegen verschlossen hatte. Es war ihm peinlich, daß er sie schlafen lassen mußte. Wie viel hatte er auf dem Herzen, ihr zu sagen, und wie gelegen war Ort und Stelle! Dann dankte er wieder Gott dafür, daß sie schlief und nach dem heftigen Ausbruch ihres Schmerzes nur heitere Bilder im Traum zu sehen schien. Denn manchmal öffneten sich ihre Lippen zu einem so friedlichen Lächeln, wie sie es seit Monaten nicht mehr gekannt hatten.

Darüber verging der größte Theil der Nacht-, die Lampe erlosch und endlich beschlich auch die Augen des Jünglings eine bleierne Müdigkeit. Er besann sich nicht lange, legte die Reisetasche als Kopfkissen auf den Fußboden neben das Sopha und streckte sich selbst der Länge nach auf den alten Teppich, daß Jeder, der die Lore etwa im Schlaf hätte stören wollen, über ihn wegschreiten mußte. So athmeten die beiden schlafenden Jugendgespielen nach so viel Schrecken und Herzweh ruhig und unschuldig nebeneinander, und der schwarze Peter, der sich seiner Herrin zu Füßen in die Sophaecke gelegt hatte, schnarchte friedlich als der Dritte in ihrem Bunde.

Auch erwachte Lorenz weder von den Sonnenstrahlen, die durch’s Fenster schossen, noch von dem jetzt freilich viel gedämpfteren Lärmen, mit dem sich am Morgen Handel und Wandel unten auf der Straße vorbeitrieb. Erst als ein kleiner, von zwei munteren Grauschimmeln gezogener Bauernwagen an Lore’s Hausthür anhielt und gleich darauf der Klopfer in drei kräftigen Schlägen erklang, rieb Lorenz sich den Schlaf aus den Augen und sprang von seinem harten Lager, einigermaßen gliederlahm, in die Höhe. Sein erster Blick fiel auf das Mädchen, das noch genau in derselben Stellung lag, wie er sie in der Nacht gebettet hatte. Er hörte aber an ihrem regelmäßigen Athmen, daß sie erquicklich schlief, und wollte eben überlegen, was nun weiter anzufangen wäre, als das Klopfen an der Hausthür sich lauter und dringlicher wiederholte. Eilig schlich er aus dem Zimmer und die Treppe hinab, um der Schläferin Ruhe zu verschaffen. Da sah er einen alten Mann in ländlicher Kleidung, Zügel und Peitsche in der Hand, vor der Thür stehen, und erkannte, da er vor Jahren einmal hier im Hause mit ihm zusammengetroffen war, den Halbbruder der Tante, den Pflegevater des kleinen Christian, der auch ihn zutraulich wieder begrüßte. An diesen wackeren Mann hatte der Pfarrer geschrieben, gleich nach dem Begräbnis der Tante: das Beste würde sein, wenn er sich aufmachte und das nun ganz verlassene Mädchen zu sich auf’s Land hinaus holte, ehe auch sie der Seuche zum Opfer fiele. Der Brief war gestern Abend in das etwa sechs Stunden entfernte Dorf gelangt, und schon um Mitternacht hatte der Biedermann, dem das Schicksal seiner verwaisten Nichte keine Ruhe ließ, die Pferde vor seinen Wagen geschirrt, um gleich mit dem Mädchen auch ihre Siebensachen und den nöthigsten Hausrath auf’s Land zu schaffen, da er selbst ledig und sein bescheidenes Häuschen für die Aufnahme einer jungen Städterin nicht zum Besten eingerichtet war.

Lorenz verständigte ihn, gleich unten auf der Gasse, von Allem, wie er es im Hause gefunden hatte, natürlich ohne das zu berühren, was ihn allein anging. Er habe Sorge getragen, daß die Lore, die von den furchtbaren Erschütterungen zum Schatten abgezehrt, schlaflos und ohne Nahrung schon zehn Tage lang herumgegangen sei, sich sofort habe niederlegen und von seinem stärkenden Wein trinken müssen. Nun liege sie im festesten Schlaf, und da es schwerlich eine bessere Arznei gebe, ihre verstörten und überreizten Sinne wieder in’s Gleichgewicht zu bringen, dürfe sie um keinen Preis geweckt werden. Andererseits liege auch ihm viel daran, sie so schnell als möglich in andere Luft zu bringen, wenn auch nicht, wie der Herr Pfarrer und der Onkel meinten, zu diesem auf’s Land, sondern vielmehr zu seinen eigenen Eltern in’s Haus seiner Schwester, das nur ein paar Stunden entlegener, dafür aber auch schon an den Vorhöhen des Gebirges in der gesundesten Gegend liege. Darum schlage er vor, einstweilen ihre Kleider und Wäsche zu packen und auf das Wägelchen zu laden. Wache sie inzwischen auf, so könne sie mit ihnen einsteigen. Schlafe sie aber fort, so wollten sie ihr hinten in dem geräumigen, mit einem Leintuch luftig überspannten Theil des Wagens ein bequemes Lager aus ihren eigenen Betten machen, sie sacht hinunterschaffen und dann in Gottes Namen mit der Schlafenden die Reise nach dem Gebirge antreten.


(Schluß folgt.)




Christkindlein auf dem Friedhof.

      Als ich im Leben einsam stand,
Sucht’ ich in fremder Kinder Blicken
Das Glück, das ich daheim nicht fand:
Des Unschuldjubels Herzerquicken.

5
      Und wenn des Christbaums Lichterschein

Aufstrahlte in der Dämmerstunde
Der Weihnacht, wandelt’ ich allein
Durch alle Gassen meine Runde.

      So weit die Tannen dieser Nacht

10
Festprangen als des Nordens Palmen,

Sind in den Herzen auferwacht
Des Kinderglaubens fromme Psalmen.
      Und was der Glaube uns verhieß
Nur als der Sel’gen letztes Hoffen:

15
Das einst verlorne Paradies –

Heut steht’s auf Erden Jedem offen!

      Auch mir ist’s herrlich aufgethan,
Umhegt von meines Stübchens Wänden;
Zur Decke ragt der Baum hinan,

20
Geheim geschmückt von frohen Händen.

      Doch eh’ für meiner Kinder Ohr
Erschallt des Christkindengels Kunde:
„Herein! Herein!“ – mach’ ich zuvor
Die liebgewohnte stille Runde.

25
      Du einzig Wunder dieser Welt:

Der reinsten Liebe endlos Walten! –
Dort ist ein Fensterlein erhellt,
Hier strahlt’s hervor durch seidne Falten –
      Und doch ist all die Freude gleich,

30
Gleich ist das Jubeln, Jauchzen, Lallen –

Den Kindern ist’s ein Himmelreich,
Und Kindeshand nur öffnet’s Allen!

      „O Gott, wer heute weinen muß!
Mir bebt das Herz bei dem Gedanken. –

35
Da, mir vorbei mit leisem Gruß,

Seh’ ich ein Weib zum Friedhof wanken;
      Ein Knäblein an der rechten Hand,
Ein Weihnachtsbäumchen in der Linken. –
Ach, all mein Lusterspähen schwand

40
Dahin vor solcher Trauer Winken.


     Sie wandelt zu vertrautem Ort,
Sie sucht nicht erst in all den Reihen;
Vor „ihrem“ Gräblein kniet sie dort,
Die Nacht auch ihrem Kind zu weihen.

45
      Die Tanne ragt, und Licht um Licht

Beleuchtet einer Mutter Thränen,
Und durch die heil’ge Stille bricht
Die Klage von der Liebe Sehnen.

      „So schmückt dein Grab der heil’ge Christ!

50
Siehst Du herab zu Deinen Lieben?

Wie groß Dein Brüderlein jetzt ist?
Du bist mein kleines Kind geblieben!
      Mein Engel Du, o schau herab,
Daß unsre Blicke sich begegnen,

55
Gott selbst führt Dich zu Deinem Grab,

Die Liebe, die hier weint, zu segnen!“

      Nun beten sie, nun gehn sie leis. –
Mich drängt’s, des Kindes Grab zu sehen:
Da leuchtet es, wo rings im Kreis

60
Gar viele Weihnachtsbäumlein stehen. –

      Ich eilte fort. – So sehnsuchtweich
Bin ich noch niemals heimgegangen,
Nie hab’ in meinem Himmelreich
Ich meine Lieben so umfangen.

65
      Und doch – beim lustumblühten Baum

Stand mir im Geist das Grabweihnachten:
Wie hältst der Liebe letzen Raum
So hoch du, deutsche Stadt der Schlachten!
      Weil du so treu die Liebe lehrst,

70
Ist uns so wohl in deiner Mitte!

Wie du die schöne Sitte ehrst,
So ehret dich die schöne Sitte.

Friedrich Hofmann.     



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_804.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)