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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

hin an dunklen, rauschenden Wäldern, vorbei an kleinen Friedhöfen, deren Kreuze hell und klar im Morgenscheine schimmerten.

Nach und nach erwachte die ruhende Natur, erwachten die Menschen in ihren freundlichen Hütten und Häusern. Dann fingen ringsum in allen Dörfern all’ die Glocken und Glöckchen an zu klingen und zu singen, und die feierlichen, vollen Klänge riefen zur Kirche. Alte, ehrenfeste Bauern mit ihren Weibern im Sonntagsstaat, junge Mädchen, duftige Blumensträußer und große Gesangbücher in den Händen, stiegen festen Schritts oder trippelten zaghaft, und verschämt, zur schmucken Dorfkirche, aus der bald die Orgel mächtig zu uns herübertönte.

Und mitten durch all’ den Frieden, durch all’ den Klang und Sang fuhren wir nach einem Schlachtfelds, zu Elend und Noth, das sich die Menschen selbst geschlagen hatten, zu zerstampften Feldern und zertretenen Saaten, dorthin, wo auch Glocken klangen, aber die Todtenglocken.

Allmählich ward die Landstraße belebter und lebendiger, je näher wir dem Städtchen Gräfentonna und dem von da nicht mehr weit entfernten Langensalza kamen; leicht Verwundete wurden transportirt, heimkehrende Hannoveraner zogen an uns vorüber, zahlreiche Colonnen erbeuteter Pferde wurden nach Erfurt gebracht, Wagen mit Unterstützungen und Erfrischungen und eine Menge Menschen, gleich uns nach der Unglücksstätte pilgernd, bedeckten die aufwärts steigende Landstraße.

Es liegt natürlich nicht in meiner Absicht, die Tage nach der Schlacht von Langensalza, noch weniger die Schlacht selbst, eingehend zu beschreiben, zumal dies in diesem Blatte schon von kundiger Hand trefflich geschehen ist. Hier möge nur Einiges folgen, was uns auf unseren Wanderungen begegnet ist.

Wir waren in einer steten Wanderung zwischen der Stadt, dem Bade und dem Dorfe Merxleben, sahen uns Alles an, gingen überall hin, wo irgend etwas Interessantes zu sehen war. Wir betrachteten die erbeuteten Pferde, Tornister, Kanonen und Flinten, die Massen der durchziehenden Soldaten, die Plätze, wo der Kampf am heftigsten getobt hatte, die barmherzigen Schwestern in ihrer düsteren Nonnentracht, in ihrer edlen Thätigkeit, die Männer mit der weißen Binde und dem rothen Johanniterkreuz, schritten hinter manchem ungeschmückten, dunklen Sarge her, der unter gedämpftem, schauerlichem Trommelwirbel zur letzten Ruhe getragen wurde, sammelten zerstreute Kugeln, beschenkten die Verwundeten und besuchten die Schmerzenshäuser und Lazarethe.

So kamen wir bei unseren Wanderungen in dem Dorfe Merxleben, wo die meisten Schwerverwundeten lagen, auch in eine Kammer, in welcher ein Preußischer Officier verwundet in einem Bett lag. Kein Mensch war bei ihm, es war ganz still in der dumpfen Kammer; auch wir blieben bewegt an der Thür stehen. Der Arme lag im letzten Kampfe, seine Sinne waren schon umnachtet und kannten das Irdische nicht mehr; aber sein Herz, seine letzten Gedanken waren noch in Kampf und Streit, bei seiner Compagnie, bei seinen Soldaten. „Wir sind aus der Linie, Jungens,“ rief er, und als hätte er den Säbel noch in der Hand, focht er matt in der Luft herum, „macht mir keine Schande, Cameraden, drauf, drauf, immer vorwärts, – immer vorwärts!“

Dann ward er ruhig und sagte kein Wort mehr. Durch das kleine Fenster fiel ein heller Mittagssonnenstrahl in die schwüle, einsame Kammer auf das Bett und das Gesicht des Sterbenden, der da eben, fern von den Seinen, in öder Stube heimging aus Kampf und Streit und Sturm zum Frieden. Leise machten wir die Thür zu und gingen herab, einem der Aerzte das Geschehene zu sagen. Einer von ihnen ging hinauf und kam bald mit der Nachricht herab, daß es zu Ende sei. Uns war es weh und trübe zu Muthe und wir mußten noch oft an den einsamen Todten droben in der leeren Stube denken, um den sich Niemand kümmerte. Und doch war es nur Einer, nur Einer von vielen Hunderten!

Den meisten Eindruck machte auf uns das große Lazareth in der Dorfkirche zu Merxleben, „das Schmerzenshaus von Merxleben“, an dessen Seite das große Massengrab liegt, wo so Viele, Freund und Feind, in Frieden schlafen. Wer noch kein Lazareth gesehen und vielleicht einen Roman, worin derlei schaurige Geschichten vorkommen, gelesen hat, könnte sich wohl denken, darin müßte ein geräuschvolles Leben, Stöhnen und Seufzen von Verwundeten, Röcheln und Schmerzensschreie von Sterbenden herrschen. Dort war es nicht so, geisterhafte, unheimliche Stille lag über dem Raume rings Alles stumm und ruhig, nirgends ein Ton, nirgends ein Laut. Nur die Aerzte gingen geräuschlos zwischen den Kranken hin und her und die barmherzigen Schwestern thaten und leise ihr edles, hülfreiches Werk. Wahrlich, eine seltsame Gemeinde war in der kleinen Dorfkirche versammelt statt derer, die sonst zu Füßen des würdigen Pfarrers den Worten des Trostes und der Verheißung lauschten! Und vor dem friedlichen Altar und der einfachen Kanzel predigte heute ein gewaltiger Priester, still und doch laut, beredt und doch ohne Wort, eine Allen verständliche, eine blutige, schaurige Predigt.

Da trat, während wir mit einem Verwundeten leise sprachen, ein alter Bauersmann an uns heran, wie es schien, aus der Nähe, aus dem Gothaischen, eine stattliche, starkknochige Gestalt im besten Sonntagsrock. Er hatte auch Einen dabei gehabt, seinen Einzigen! In der vordersten Reihe der Gothaner hatte er gestanden, hatte brav mitgekämpft. Aber Niemand wußte, wohin er gekommen war. Da hatte er sich in seiner Vatersorge aufgemacht im Sonntagsstaate aus seinem kleinen, stillen Walddorfe, um seinen Sohn, sein einziges Kind, zu suchen, hatte sich die Erlaubniß ausgebeten, in die Lazarethe gehen zu dürfen, und so ging er nun, unbewegt um das Elend um ihn herum, das er kaum zu sehen schien, still hindurch durch die Reihen, der Verwundeten, mit dem Auge eines Vaters spähend, ob er seinen Liebling nicht fände.

So sahen wir ihn, den starken Mann, wie er immer suchte und ihn doch nicht finden konnte. In seiner Hand trug er ein Päckchen Photographien seines Sohnes und jedem Arzte, Jedem, von dem er dachte, daß er sein Kind gesehen haben könne, gab er solch ein Bild leise in die Hand und sagte: „Herr, ’s ist mein Sohn, er war auch mit dabei und ich kann ihn nicht finden. Herr, wenn Ihr ihn seht, ich will’s Euch nie vergessen!“

Ob er ihn wohl gefunden hat? Ich weiß es nicht, doch will ich’s ihm von Herzen wünschend. Noch am Nachmittage sah ich ihn wieder in einem Lazarethe in der Stadt. Das Päckchen Photographien war ganz klein geworden, sein Gang gebückter, sein Auge trüber. Er hatte ihn noch nicht gefunden. Und am Abend, glaube ich, war sein Päckchen – und seine Hoffnung zu Ende. Wollte er ihn finden, so mußte er ihn wohl da suchen, wo die stillen Schläfer liegen und vom heißen Kampfe ausruhen; mußte wieder heimziehen in sein stilles Walddorf, ein armer, kinderloser Mann, einsam und allein! –

Die traurigen Bilder häuften sich so, daß es für unsere jungen Herzen fast zu viel ward. Zwar die abgehärteteren Gemüther der Doctoren und Mediciner waren noch unbewegt, freuten sich über Schußwunden und Verbände, ja, sie nannten das, was uns so tief ergriff, höchst interessant und instructiv. Wir aber, die wir im Dienste friedlicherer Musen standen, waren des endlosen Jammers müde und strebten sehnlichst, ein gastliches Haus zu finden.

Auf dem Wege dahin begegnete uns eine Schwadron schmucker grüner Husaren. Während wir stehen blieben und den stattlichen Zug bewunderten, horch, da stimmten plötzlich diese Kriegsleute das alte Studentenlied an: „Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus“. Wir aber stimmten sofort mit ein, und während die rüstigen Gesellen dahin ritten, klang’s fast wehmüthig, ferner und ferner herüber, bis endlich der Klang ganz verhallte:

Vita nostra brevis est,
Brevi finietur.
Venit mors velociter,
Rapit nos atrociter,
Nemini parcetur.

Wo ritten fix hin, die lustigen Reiter? Wo sind sie jetzt? Studiren sie vielleicht schon wieder friedlich auf einer Universität oder deckt auch Manchen von ihnen der „humus“, welcher Alle decken wird, nach der fröhlichen Jugend, nach dem lästigen Alter? –

Vor der Stadt trennten wir uns, nachdem schon vorher Einige ihren eigenen Weg gegangen, in zwei Heerhaufen, beide auf gut Glück nach Obdach und Stärkung suchend. Ich und zwei meiner Freunde wandten uns nach dem vor der Stadt liegenden Schützenhause, wo der König Georg vor und nach der Schlacht logirt hatte.

Doch beinahe sollten unsere Hoffnungen getäuscht werden, denn auf unser Ansuchen setzte uns ein dienstbarer Geist umständlich auseinander, daß es gar keine Möglichkeit wäre, Etwas zum Essen zu bekommen, noch weniger einen Platz, wo wir für einige Zeit unser Haupt hinlegen könnten. Schon wollten wir

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