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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Uebergang, wenn wir uns vom Privatsecretär zu jenen Herren wenden, die in einer Linie neben dem Eingang stehen. Sie sind keine gewöhnlichen Besucher des Ganges und ihr Charakter verräth sich darin, wie sie Alles anstaunen. Wie bedauernswürdig ist der Abgeordnete von Little Stoke Pogis, der gleich erscheinen wird und sich eine halbe Stunde mit ihnen unterhalten muß, wenn er nicht bei der nächsten Wahl ihre Stimmen verlieren will!

Die Zeit vergeht, doch bleibt uns noch ein Augenblick für die Betrachtung der würdigen und fein gekleideten Herren, welche die Armstühle zu beiden Seiten der Thür einnehmen. Sie sind keine Herzöge, wenn sie auch gelegentlich dafür gehalten werden sollten, sondern einfach Thürsteher. Diese Herren sind wichtige Personen und verrathen ein großes Selbstbewußtsein. In kleinen Behältern neben ihren Stühlen liegen unzählige Briefe, die für die Mitgliedern des Hauses bestimmt sind und beim Eintritt der Eigenthümer abgegeben werden. Das Hauptgeschäft dieser Herren besteht darin, unbefugte Personen fern zu halten, und sie müssen sich daher die Gesichter der Abgeordneten genau merken. In den Provinzen erzählt man sich eine Lieblingsgeschichte von einem Fremden, der nach London kam und Westminster sehen wollte, aber aus Irrthum in’s Unterhaus gerieth und mitten unten den Mitgliedern Platz nahm. Ein solcher Fall kann indeß nicht vorkommen, denn nach jeder Wahl bitten die Thürsteher die vorübergehenden neuen Mitglieder um ihre Namen und fahren damit so lange fort, bis die Gesichter ihnen bekannt sind.

„Hüte ab!“ ruft ein Polizeimann aus einem Winkel, und sofort entblößen sich alle Köpfe. Vier andere Polizeidiener schaffen unter der Menschenmenge des Ganges Platz, und nun meldet eine zweite Stimme den Sprecher an, worauf eine kleine Procession erscheint, die den ersten „Gemeinen“ Englands auf seinen Posten geleitet. Zuerst kommt ein Ceremonienmeister; dann folgt Lord Charles Russell in voller Hoftracht und mit einem goldenen Scepter auf der Schulter. Nun zeigt sich der Sprecher selbst in voller Perrücke und einem langen Ueberkleide, mit seinem Caplan an seiner Seite und mit seinem Schleppenträger hinter sich, der den Saum des Kleides trägt’. Die Gesellschaft geht durch die Thür, die sich halb hinter ihr schließt, und bald darauf ruft einer der Herren in den Lehnsesseln: „Der Herr Sprecher ist beim Gebet!“ und dann werden die Thüren geschlossen und Niemand darf mehr eintreten, bis das Gebet vorüber ist. Im Unterhause gilt die Regel, daß diejenigen Mitglieder, welche beim Gebet schon anwesend sind, sich ihren Platz für die ganze Sitzung sichern können. Sie belegen, indem sie ihre Karte in den kleinen Rahmen von Bronze einschicken, der an der Rücklehne jedes Sitzes befestigt ist. Gewisse Personen finden immer denselben Platz. Die Ministerbank bleibt natürlich den Räthen der Krone vorbehalten und auch die erste Bank auf der Seile der Opposition ist in festen Händen. Außer diesen Plätzen giebt’s nur einige wenige, die man bestimmten Personen überläßt. Zu diesen gehören Bright, der blinde Fawcett, General Peel, Stuart Mill, Baines, Newdegate, Wetzel und noch zwei oder drei andere. Unter diesen dürfen wir Herrn Kavaragh nicht vergessen. Dieser Gentleman wurde ohne Arme und Beine geboren und kann sich ohne Beihülfe nicht bewegen. Ein Diener trägt ihn in’s Haus und setzt ihn auf den Platz. Wird abgestimmt, so kann er natürlich nicht mit in eines der Vorzimmer gehen, in welche die Mitglieder sich begeben, die „Jas“ nach rechts, die „Neins“ nach links. Die beiden Stimmenzähler müssen zu ihm kommen und ihn allein auf seinem Platze abstimmen lassen.

Wir müssen in den Gang zurückkehren und den Strom von Mitgliedern beobachten, der sich durch ihn ergießt. Der gutmüthige Polizeiaufseher, der eine der stehenden Figuren des Ortes ist, steht immer unter einer Menge von Engländern und Fremden und nennt ihnen die berühmten Mitglieder, die vorbeigehen. Wir treten zu der Gruppe, um von seiner Personenkenntniß Nutzen zu ziehen. Hier kommt Bright, der große Radicale und Sprecher der Manchesterschule, der immer einer der Ersten ist. Er ist stärker geworden als in den Tagen des Kampfes gegen die Korngesetze, und sein Backenbart wie sein Haar haben beinahe eine weiße Farbe angenommen, aber das schöne Auge hat nichts von seinem alten Feuer verloren. Jener magere altmodisch gekleidete Mann, der ein wenig hinkt, ist Stuart Mill, der geistreiche Schriftsteller und Nationalökonom. Ihm folgt einer seiner besten Schüler, Henry Fawcett, geführt von einem kleinen Knaben. Jener Mann mit dem Augenglase, der zwischen der Menge im Gange hin- und hereilt und für Jeden ein Wort und einen Händedruck hat, ist Maguire, der Biograph des Vaters Mathew, und jener kurzsichtige Herr mit kurz abgeschnittenem grauen Bart und militärischer Haltung ist eine zweite literarische Berühmtheit des Hauses, der hier vertraulich als Cothen Kinglake bezeichnet wird. „Cothen“ ist der Titel der Beschreibung seiner Reise in den Orient, die in England in hohem Ansehen steht. Zufällig trifft es sich so, daß eben der Herausgeber der Times an ihm vorbeigeht. Nach seinen breiten und offenen Zügen sollte man ihn eher für einen Landjunker halten, als für das mächtige Wesen, dem das große Orakel der europäischen Presse gehorcht.

Die Mitglieder drängen sich nun so zahlreich herein, daß man die einzelnen kaum zu bemerken vermag. Hier aber ist eine Persönlichkeit, die wir nicht unbeachtet lassen dürfen. Dieser große Mann mit dem grauen Schnurrbart und den melancholischen Augen ist Lord John Manners. Er nimmt im Ministerium keine hervorragende Stelle ein, aber wir betrachten ihn mit Interesse, denn er war einmal die Hoffnung des jungen Englands. Disraeli, der ihn zum Helden eines seiner Romane machte, ist hoch über seinen Kopf emporgestiegen; allein er hängt an seinem alten Freunde mit einer Liebe, die wir nicht übersehen dürfen, und darum sitzt Lord John Manners gegenwärtig auf der Ministerbank.

Nicht zu verkennen ist der Mann, welcher jetzt kommt, mit scharfen grauen Augen umherblickt, die ganze Versammlung mit einem Blick überfliegt und rasch in das Haus geht. Jeder hat das edle gedankenvolle Gesicht schon gesehen, in das der Kummer mehr Furchen gegraben hat als die Zeit. Alles tritt ehrfurchtsvoll zurück und nicht Wenige nehmen den Hut ab, während Gladstone, das Haupt der vorgeschritteneren Whigs und der Ministerpräsident der nächsten Zeit, bei ihnen vorbeigeht. Selbst seine Gegner achten ihn wegen seiner Ehrlichkeit hoch, und Niemand spricht ihm die großen Eigenschaften ab, denen er seine eigenthümliche und fast beispiellose politische Laufbahn verdankt. Er ist schon vorbei, ehe wir ihn ordentlich gesehen haben, und indem wir ihm mit den Blicken folgten, übersehen wir einen andern merkwürdigen Mann, dessen Lob Conservative und Liberale zugleich singen, den Minister des Aeußern, Lord Stanley.

Herr Lowe, der in Australien seine Schule gemacht und sich den Liberalen angeschlossen hat, ist der nächste Vorübergehende. Sein rothes Gesicht und schneeweißes Haar machen ihn zu einer auffallenden Erscheinung. Hier ist der Premierminister selbst. Er geht mit trippelnden Schritten, schwingt mit den Armen und schlägt die Augen nieder, so daß er die Grüße nicht bemerkt, mit denen man ihn empfängt. Wie lange ist es her, als er, arm und unbekannt, jene wunderbare Laufbahn betrat, auf der er zuletzt zu den Stufen des Thrones gelangt ist und nun die Zügel des britischen Weltreichs in der Hand hält. Den Mann umgiebt ein stark romantisches Licht. Sieht man ihn, so denkt man unwillkürlich an „Vivian Grey“, dessen Schicksale er in einem seiner Romane erzählt, an seine dornenvolle Jugend, seine Kämpfe, seine Versuchungen, seinen schließlichen Triumph, und denkt man daran, so fühlt man eine große persönliche Sympathie mit dem Manne, der so viel gelitten und so viel erreicht hat.

Nach Disraeli hat man für die kleineren Berühmtheiten, die noch kommen, kein Interesse mehr. Es giebt genug, die zu sehen und deren Schicksale zu studiren der Mühe werth ist, doch ist die Neugier des Fremden gewöhnlich befriedigt, wenn er seine Augen an dem großen Kleeblatt des Hauses, an Bright, Gladstone und Disraeli geweidet hat. Wir verweilen übrigens noch einen Augenblick, um jenen Herrn in untadelhaftem Anzuge zu betrachten, der eben einen glatt anschließenden Handschuh auszieht, um einem Freund die Hand zu drücken. An dem Manne ist durchaus nichts Schreckliches, und er scheint der jüngere Sohn eines Lords zu sein. Es ist der O’Donoghue, den Tipperary anbetet und dessen Ansprüche auf den Thron von Irland mehr als einmal öffentlich vertheidigt worden sind. Ein größerer Contrast als der zwischen seinem Aeußeren und seinem Ruf läßt sich kaum denken. Als er in’s Unterhaus trat und den Eid leistete, war Alles verwundert, statt des wilden rothhaarigen Rebellen, den man erwartete, diesen eleganten jungen Herrn zu sehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_569.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)