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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Hand, sagte ihm hastig, daß sein Unwohlsein mehr, als erlaubt sei, zunehme, und bat ihn, sich in’ nichts dadurch stören zu lassen, daß er sich zurückziehe. Der erschrockene Wilhelm folgte ihm hinaus. Er erklärte ihm, trotz allen Sträubens, daß er ihn unter diesen Umständen nicht verlassen werde. Er klagte sich an, daß er ihn so rücksichtslos aus seiner nothwendigen Ruhe aufgeschreckt habe, führte ihn den ganzen Weg bis an ihr Haus, schickte den Diener zum Arzt und gab sich nicht eher zufrieden, als bis sich Karl wie ein Kranker in’s Bett gelegt hatte. Dann saß er neben ihm und sah ihn zuweilen mit dem Blick einer Wärterin an und sagte kein Wort. Karl’s tiefe Beklemmung wuchs. Endlich, nachdem der Arzt erschienen war, ein leichtes Fieber erkannt und eine Kleinigkeit verordnet hatte, richtete der Tiefgequälte sich auf und betheuerte dem Bruder, daß er allein zu sein wünsche; daß er von ihm verlange, zu seinen Schwiegereltern – er brachte Annettens Namen nicht über die Zunge – auf der Stelle zurückzugehen und unterdessen ihn sich gesund schlafen zu lassen. Wilhelm nahm seine Hand und fragte, indem er ihn zärtlich ansah, ob er die Hochzeit aufschieben solle? dann, da der Andere heftig den Kopf schüttelte: ob er ihm wenigstens versprechen wolle, bis zur Trauung ganz stille zu bleiben, wo er sei, und sich allen ceremoniellen Pflichten zu entziehen, außer der einen, ihn am Nachmittag zur Kirche zu geleiten? Karl nickte mit einem flüchtigen Blick und drückte ihm die Hand, und Wilhelm, nachdem er den Bedienten in’s Nebenzimmer gesetzt hatte, winkte noch einmal liebevoll zurück und ging davon.

Die Nacht verwachte der Einsame in wirklichen Fieberschauern und trostlosen Gedanken. Er hielt die Augen geschlossen, als der Bruder zurückkam, that wie wenn er schliefe, und während er laut und wie in tiefen Träumen athmete, kämpfte er mit den mörderischsten Wünschen und wiederholte sich den einzigen Trost, daß er wenigstens fliehen könne und die Welt weit sei. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf, und erst die Mittagssonne, die durch’s Fenster hereindrang und auf sein Bette schien, weckte ihn auf. Der Bediente kam, um ihm zu sagen, daß es nun Zeit sei, sich für den Gang zur Kirche anzukleiden, wenn er sich wohl genug fühle. Er nickte ihm zu, stand auf und warf sich in die goldgeschmückten, glitzernden Festkleider, die man ihm zurechtgelegt hatte und die ihn unnatürlich zu verhöhnen schienen. Seine Empfindung indessen war betäubt; er ging in einer gewissen dumpfen Erstarrung – der Diener hinter ihm drein - dem Haus an der Kirche zu, das man mit Maien und Blumengebinden geschmückt hatte und das eine Volksmenge neugierig umstand. Die Sonne schimmerte etwas feucht durch das Gewölk, der Regen hatte aufgehört, die Luft begann sich wieder zu erwärmen. Er empfand es mit einer Art von stumpfem Behagen, und dachte an weiter nichts, als er im Haus über die Schwelle trat. Ihm war, als schliefen die Gedanken hinter seiner Stirn und als müsse er sich nur hüten, sie zu erwecken. Indessen die lebhaften Stimmen durcheinander, die er in den vorderen Zimmern summen und lachen hörte, rissen ihn plötzlich ans seiner Versunkenheit auf. Er erkannte die hellen Töne der Demoiselle Merling, ein widriges Gefühl flog über ihn hin, und um nicht alle Fassung auf einmal zu verlieren, ging er hastig an den Thüren vorbei, trat auf den Hof hinaus, und ließ die erwärmten, weichen, stillen Luftwellen beruhigend um sich fließen.

Hinter dem sah er den Garten offen, das Grün lockte ihn an, er ging die wenigen Schritte weiter, um sich in jener stillen Ecke in die verhängnißvolle Laube zu setzen. Der Geist Annettens kam hier über ihn, seine Augen füllten sich mit den ersten Thränen, die er um sie weinte. Er glaubte sie zwischen diesen duftenden Beeten als zierliche Gärtnerin auf und nieder schweben zu sehen, als die feinste aller dieser Blüthen; er dachte sie sich wieder in jenem ersten Kleid, wie eine weiße Rose unter diesen feurigen Nelken und den absterbenden Tausendschönchen, – und Alles, was in seiner Seele weich war, warf sich ihm mit der ganzen Ueberschwänglichkeit des Schmerzes in die überfließenden Augen. So mochte er schon eine Weile dagesessen haben, gegen den Tisch gelehnt und die nassen Wimpern in tiefer Schwermuth geschlossen, als über den Kiesweg her rasche Schritte herankamen und seine Besinnung erwachte. Er fuhr sich mit der Hand über die Lider und Wangen, um sie hastig zu trocknen, und sah dann mit einem halben Blick der Gestalt, die sich näherte, entgegen.

Die Schönheit dieser Gestalt überraschte ihn. Es war sein Bruder, – heute zum ersten Mal in anderer Kleidung als er, in blauem Sammet und silbergestickter Weste; dazu in der ganzen freien, selbstgewissen Haltung, die ihn so unwiderstehlich machte und die dieser Tag noch erhöhte; die Haare an den Seiten zierlich gelockt und nach hinten gebunden, die blauen Augen voll Feuer, die vollen Lippen wie von Lebensfreude geschwellt und wie Blutnelken glühend. Er trat auf Karl zu, ohne ihn in’s Auge zu fassen, mit dem Gang eines Prinzen, der zur Thronfolge berufen wird, und indem er vor dem Jasminbusch neben der Laube stehen blieb, um einen Zweig voll eben aufgesprungener Blüthen abzupflücken, sagte er hastig: „Hier find’ ich Dich, Karl? Ich suchte Dich im ganzen Hause; hat Dir noch Niemand gesagt, daß wir in zwei Minuten zur Kirche gehen?“

„Ich werde kommen,“ erwiderte Karl tonlos und stand auf.

Wilhelm betrachtete den blühenden Zweig mit glücklichen Augen, versuchte, ob er ihn in’s Knopfloch stecken könne, und sagte dann hinaushorchend: „Ich glaube, sie ordnen sich schon! – Karl, Du kannst Dir mit all Deiner Phantasie nicht vorstellen, was dies für ein Augenblick ist! So unmittelbar an der Thür zu stehen, durch die man in’s größte Lebensglück hineintritt – es macht schwindlig, Karl. Es überstürzt Einen so! Es ist ganz unaussprechlich!“ – Er hielt den Jasminzweig noch immer in der Hand, da die großen Regentropfen noch an ihm hingen, und schüttelte ihn, um ihn abzutropfen, sah dabei zu Karl hinüber und erschrak. „Mein Gott, was ist Dir?“ sagte er. „Du siehst so elend, – was ist Dir geschehen?“

„Mir? Was sollte nur geschehen sein? – Komm, laß uns gehen,“ setzte Karl hinzu und versuchte ein scherzhaftes Gesicht zu machen, „damit der Bräutigam nicht die Trauung versäumt!“

„Du hast geweint, Karl!“ rief Wilhelm aus und blieb wie angenagelt vor ihm stehen.

„Meine Farbe, meine angegriffenen Augen täuschen Dich, Lieber. Was denkst Du? Ich habe einen schlechten Kopf, das ist Alles. Komm’, laß uns gehen!“

„Du, Karl, willst mich täuschen! Warum steckst Du hier so allein? Was macht Dich so melancholisch? – Seit Du unwohl bist, erkenn’ ich Dich gar nicht mehr; Du hast so traurige Augen, Du bist so gedrückt – Karl, Karl, was sollen wir mit Dir thun?“ – Er trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Warte nur, warte! Sobald die Hochzeitfeier vorüber ist, nehm’ ich Dich mit hinaus; ich erkläre Dich für meinen Patienten, wir überwachen Dich, Annette soll Dich pflegen, und ich gebe Dich nicht eher heraus, als bis Du wieder helle Augen und ein leichteres Blut hast!“

Er suchte dabei den Bruder zärtlich an sich zu ziehen; aber Karl, unfähig, ihm auf diese liebreiche Drohung in’s Gesicht zu blicken, machte sich unwillkürlich von ihm los und wandte sich ab. „Lieber Thor!“ sagte er nach einer Weile mit gekünstelter Heiterkeit, indem er an dem Gezweig der Laube herumpflückte. „Ich denke nicht daran, Eure Flitterwochen zu stören. Das war wieder einer Deiner drolligen Einfälle! – Ich wollte Dir übrigens schon sagen, mein Alter,“ fuhr er mit zitternd scherzender Stimme fort, „daß ich verreise.“

„Was – ?“ fragte Wilhelm und starrte ihn an, wie wenn er nicht richtig gehört hätte. „Was wolltest Du, Karl?“

„Nach Paris,“ erwiderte Karl noch immer abgewandt, „sagte ich es Dir noch nicht? Es ist ein alter Gedanke –“

„Karl!“ rief Wilhelm außer sich ihn an, „wann wolltest Du fort?“

„Du wirst ja so stürmisch,“ sagte Karl und fing an zu erschrecken. „Es ist wahr, ich hätte es Dir schon früher schreiben sollen –“

„Wann willst Du fort?“

„Ich denke, bald,“ sagte Karl in plötzlicher Angst und riß ein paar Blätter vom Gerank herunter. „Warum fragst Du so? Nach Deiner Hochzeit, Liebster morgen –“

„Morgen!“ wiederholte Wilhelm tonlos und ließ seinen Jasminzweig zur Erde fallen. „Und das sagst Du mir – –“

Die Stimme gehorchte ihm nicht mehr, er brach ab und drehte sich um.

Karl faßte endlich den Muth, ihn mit seinen Blicken aufzusuchen; da sah er, wie Wilhelm sich mit großen Schritten entfernte.

„Wilhelm!“ rief er ihm nach.

„Schon gut, schon gut!“ rief dieser aus und sah mit einem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_531.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)