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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

sich aus seinen verschlossenen Empfindungen aus. „Wir müssen hinein; komm’, mein Schwärmer. Wenn Du erst wieder eine Tänzerin im Arme hast, wird Deine arme angeschossene Seele genesen.“

Er nahm Wilhelm bei der Hand und zog ihn sanft mit sich fort. „Du irrst Dich ganz unaussprechlich,“ sagte dieser und seufzte. „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mir zu Muth ist, weil Du nie so unsinnig werden kannst, wie ich. Aber ich liebe Dich dennoch; laß Dich umarmen, Karl, laß Dich umarmen!“ Er legte seine Arme weich um des Bruders Hals und umschlang ihn sehr zärtlich. „Ewige Liebe, Karl! So ewig wie–“ Seine Zunge taumelte und verstummte, und in einem schwärmerischen Bruderkuß begrub er seine sehnsüchtigen Gefühle.




2.

Am nächsten Nachmittag saßen Demoiselle Merling und Annette im Wohnzimmer der alten Dame beim Kaffee sich gegenüber, jede einen Strickstrumpf in der Hand, und in leichtem Geplauder. Die Sonne schien durch die beiden Fenster herein, erleuchtete die Lichtbilder, die an den Scheiben hingen, spielte auf dem schlohweißen Tischtuch und den vergoldeten Kaffeetassen, und glitzerte über die Stricknadel, mit der sich Demoiselle Merling, während sie sprach, nach ihrer Gewohnheit hinter den Schläfen rieb. Es war für sie die behaglichste Stunde des Tages, und sie liebte es, um diese Zeit nie ohne Besuch zu sein. Neben ihrer Tasse lag ein geistliches Buch, aus dem sie vorhin einige Stellen vorgelesen hatte; indessen hatte das Plaudern diesen schweinsledernen Tröster abgelöst, und sie war jetzt damit beschäftigt, die Gesellschaft von gestern Abend zu mustern. Eben nahm sie, mitten im Satz sich unterbrechend, wieder ein Stückchen Zucker in den Mund, um ein Schlückchen Kaffee hinterher zu trinken, als Annette sich wie zufällig umwandte und sagte, indem sie zu den Oelbildern an der Wand hinaufsah: „Sind diese rothröckigen Knaben da oben nicht Ihre beiden Söhne, Monsieur Wilhelm und Karl?“

„Freilich, freilich, meine liebe Annette,“ erwiderte die alte Dame und ließ ihre Tasse stehen, „das sind die beiden Jünglinge, vor acht Jahren gemalt, als sie noch auf dem Gymnasium den Homer und den Livius exercirten. Nicht wahr, sie sind charmant, die kleinen grands seigneurs, in ihrem gepuderten Haar, mit dem Spitzen-Jabot und der gelben Weste? Diese rothen Röcke waren damals das Feinste. Und mein alter Wilhelm, was für ein schöner Junge er damals schon war! So distinguirt sieht er aus! Der arme gute Charles kann sich daneben nicht halten.“

„Meinen Sie?“ fragte Annette mit kaum hörbarer Stimme. „Seine braunen Augen – er sieht so interessant aus.“

„Interessant? Ein Freigeist ist er. Ein revolutionärer Mensch. Aber Wilhelm – das ist ein junger Mann comme il faut. So offen, so elegant, so gutherzig! Das ist mein Ideal von einem jungen Menschen, in den hätte ich mich verliebt,“ setzte sie mit einem etwas verschämt lächelnden Blick auf das Tischtuch hinzu, „wenn er zu meiner Zeit jung gewesen wäre.“

Annette schwieg, aber schüttelte unwillkürlich den Kopf, während sie, immer noch abgewandt, den feinen Mund und die ernsten braunen Augen des Andern studirte. „Sie haben Recht, Ihr Monsieur Wilhelm ist schöner,“ sagte sie endlich und verschwieg, was sie dachte.

Die alte Dame nickte eifrig und schien sich eben zu einem zweiten Hymnus auf den schönen Jüngling anzuschicken, als an die Thür geklopft ward und auf ihr „Herein!“ Wilhelm wie in der Fabel erschien. Hinter ihm folgte Karl, und die beiden schlanken Gestalten traten auf sie zu, um sie mit einem ehrerbietig zärtlichen Handkuß zu begrüßen.

„Ah, Mademoiselle,“ sagte Karl mit einem Blick der freudigsten Ueberraschung, als er jetzt Annette bemerkte, die bei dem Klopfen aufgesprungen und bei Seite getreten war. Ein hastiges Roth schlug ihr bis an die Stirn hinauf und färbte ihre durchsichtigen Schläfen. „Sind Sie heute wohl?“ fragte er. „Sind Sie heute – weniger verständig?“ – Sie nickte ihm lächelnd zu und ward wieder roth. Darüber bemerkte Karl, daß zwei beobachtende Augen auf ihnen hafteten; er setzte seine ruhigste Miene auf und wandte sich von dem Mädchen zu der Alten zurück. „Ich komme, um auf einige Zeit von Ihnen Abschied zu nehmen, liebe Tante,“ sagte er scheinbar gelassen. „Mein Inspector ist krank geworden, er hat keinen Vertreter, das Gut schreit nach seinem Herrn. Morgen früh – sobald ich hier Alles abgewickelt habe – fahr’ ich hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Und dann werd’ ich wohl so lange auf meinem Acker sitzen bleiben, – bis ich wieder hereinkomme.“

„Sie Armer!“ sagte Demoiselle Merling mit einiger Emphase und drückte ihm die Hand. „So werden Sie sich der Abschiedsfête entziehen, die wir unseren beiden Jünglingen geben wollten? Kommen Sie, mein lieber alter Wilhelm, setzen Sie sich. Das ist schön, daß Sie die Alte nicht verlassen, Sie sind ein prächtiger Mensch. Ich habe eben auch allerlei – Böses von Ihnen geredet,“ setzte sie mit scherzhaft blinkenden Augen hinzu und kniff ihn sanft in den Arm. „Sie werden dieser jungen Dame da sehr abschreckend geschildert, lieber Wilhelm, nehmen Sie sich vor meiner bösen Zunge in Acht!“ Und dabei lachte sie auf und winkte der erröthenden Annette so geheimnißvoll lustig zu, daß diese verwirrt in ihre Tasse starrte.

„Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Tante Merling,“ erwiderte Wilhelm mit sehr neckischer Miene, ohne auf diese Späße einzugehen. „Sie können jetzt heirathen, Tante, Ihr alter Anbeter, der Herr Walter, hat sich von seiner Frau scheiden lassen und wird sich nun natürlich nach einer Anderen, – nach einer gewissen ungewissen Anderen umsehen.“

Mon dieu, mon dieu, was dieser tolle junge Mensch für Späße macht!“ rief die alte Dame mit ihrer höchsten Stimme aus und schien vor Lachen umkommen zu wollen. „Seine alte Tante so zu verhöhnen! Ich den Herrn Walter noch heirathen! ist das ein närrischer Junge!“

„Warum nicht, wenn man noch so liebenswürdig ist?“ erwiderte Wilhelm und sah ihr mit drolliger Koketterie in die Augen. „Der alte Herr Walter hatte gar keinen anderen Grund, sich von seiner Gattin scheiden zu lassen, als gegenseitige Abneigung. Also, wenn umgekehrt gegenseitige Zuneigung da ist –“

„Schweigen Sie, Bösewicht!“ unterbrach ihn Demoiselle Merling, ihre lachlustige Munterkeit unterdrückend, „wie können Sie in Gegenwart eines jungen Mädchens so abscheuliche Reden führen? Nein, nein, lieber Wilhelm, darüber läßt sich nicht scherzen. Mit so einer alten Tante wohl, aber nicht mit der jungen Welt. Sagen Sie nie mehr dergleichen. Der alte Herr Walter ist ein gottloser, gewissenloser, detestabler Mensch, wenn er aus so einem frivolen Grund seine Ehe auflöst. Lassen Sie sich sagen, lieber Wilhelm, daß die Ehe zu dem Ehrwürdigsten gehört, was es auf Erden und im Himmel giebt, und daß ich zwar keine Katholikin bin – das hat Gott verhütet – aber daß ich dennoch die Ehe für ein heiliges und unauflösliches Band halte.“

„Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht, liebe Tante,“ erwiderte Wilhelm mit dem gutmüthigsten Lächeln, „durchaus nicht. Sie haben ja Recht. Ich halte die Ehe,“ und er warf dabei Annetten einen so lebhaften, glänzenden Blick zu, daß sie von Neuem vor sich niedersah, „ich halte die Ehe ebenfalls für etwas sehr Ehrwürdiges, liebe Tante.“

„Für ein heiliges und unauflösliches Band,“ wiederholte die Alte mit dem stärksten Nachdruck und sah Einen nach dem Anderen durchdringend an.

„Meinen Sie?“ sagte Karl ruhig, indem er ihr näher trat.

„Meinen Sie das so ohne jede Ausnahme?“

„Ohne jede Ausnahme,“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, „ja wohl, ohne jede Ausnahme! Dieser Herr Walter hat nach meiner Meinung ganz detestabel gehandelt –“

„Ich rede nicht von Herrn Walter,“ unterbrach sie Karl, „ich rede von allgemeinen Möglichkeiten. Mir scheint es nicht nöthig, liebe Tante, mit den unehrenhaften Fällen auch die ehrenhaften auszuschließen.“

„Scheint Ihnen nicht nöthig? Nein, Ihnen natürlich nicht! Sie betrachten ja Alles mit revolutionären Augen, Sie sind ja ein Jakobiner, ein Franzose.“

„Wozu sich erhitzen, liebe Tante!“ erwiderte Karl ruhig, indem er ein leises ironisches Zucken der Mundwinkel unterdrückte. „Warum soll es von irgend einer Einrichtung – und mag sie an sich so vortrefflich sein, wie sie will – keine Ausnahme geben? Ist nicht bei allen menschlichen und irdischen Dingen auf Ausnahmen gerechnet? Und wenn es in neunundneunzig Fällen eine Sünde wäre, vor der großen sittlichen Aufgabe, die man sich in

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