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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Bilder aus den Alpen.

Nr. 3. Die Bittgänge im bairischen Hochlande.

Der katholische Cultus, wenn man ihn von der menschlichen Seite betrachtet, hat ein sehr großes Verdienst. Dies liegt darin, daß er zu einer Zeit der Barbarei mit wahrem Genie die Bedürfnisse des Gemüths erkannt und auf ihnen die Entwickelung seiner gottesdienstlichen Formen begründet hat. Darauf, auf ihrem Sinn, beruht die Macht der Form, ob wir derselben im Tempel oder auf freiem Feld begegnen. Wirkt im ersteren die Macht auf uns ein, welche die Geschichte aus jedes Menschenherz ihm unbewußt ausübt, so auf letzterem die Macht der Natur, die jener andern völlig ebenbürtig ist. Das haben die geistlichen Führer des Volkes wohl begriffen, und die Einrichtung der sogenannten Bittgänge, der Processionen, ist aus diesem Grundgedanken erwachsen. Unwillkürlich öffnet sich das Herz, wenn Berg und Thal vor unserem Blick sich öffnen, unwillkürlich wachen Hoffnung und Glaube in unserm Herzen auf, wenn so die Wunder der Natur vor unseren Augen liegen. Die Psychologie der Religionen ist ihre Stärke, und darum finden wir auch diese Bittgänge nirgends so sehr verbreitet wie gerade in schönen Gegenden und in der schönsten Jahreszeit.

Einen weiteren Antheil daran hat ein anderer Zug, der nun einmal aus der Menschennatur nicht herauszubringen ist.

Wir sind geborene „Malcontents“ und haben die fixe Idee, daß draußen Alles besser zu erhalten ist, als daheim – auch der Segen, auch die Gnade. In den höchsten Schichten und in den niedersten begegnen wir diesem Hang; er schuf die Sehnsucht der Kaiserin Eugenie nach Rom, er beseelt die kleine Landgemeinde, die aus ihrem Bauerndörflein fort und zur Kirche des nächsten Bauerndörfleins hinzieht.

Am weitesten verbreitet und gewöhnlich auch die erste von allen Processionen des Jahres ist jene am Frohnleichnamstag, der im Gebirge ausschließlich als Antlaß bezeichnet wird. Wenn auch schon Pfingsten vorüberging, ist’s doch noch Frühling in den Bergen. Zwischen hohen, schwankenden Halmen wandert der bunte Zug hindurch; wie die rothen Wimpel der Fähnlein wehen, wie das goldene Kreuz im Sonnenlichte glitzert! Und dazwischen der Kindergesang und die feinen Glöcklein, die den Baldachin begleiten, wo die blauen Weihrauchwölkchen gen Himmel fliegen.

Drüben vom spitzen Kirchthurm schallt das Läuten herüber, so klar, so melodisch, jeder Ton ein Friedensgedanke.

Und über dem Allen glänzt die Morgensonne, glänzt dies Himmelsblau, das so siegreich in unsere Seele dringt. Da sinkt das Mütterlein in’s Knie, das auf dem Wege wartet, und segnet das Leben, ihr müdes Leben. Ja, eine solche Stunde ist allmächtig; da muß man an die Zukunft glauben und von allen Worten, die den Frühling preisen, ist keines tiefer gedacht, als das Wort Frühlingsglaube.

Auch ich stand am Wege, an einer alten Linde, wo das Sonnenlicht mit den Blättern spielte. Ein Lebensdrang lag in den Zweigen und in der Erde, es war, als tönte durch alle Lüfte das selige Lied:

„Nun muß sich Alles, Alles wenden!“

Hinter dem Himmel, wo das Sanctissimum getragen wird, schreiten die Würdenträger des Dorfes. Kein Hofmarschall mit goldenen Tressen, kein Ceremonienmeister ordnet ihre Reihe, denn manchmal treffen Alpha und Omega derselben in Einer Person zusammen. Auch die landesüblichen Heiligen und die Standbilder der Ortskirche begleiten den Zug, vor Allem das Marienbild, das von Mädchen getragen wird, ganz so wie es unser wackerer Künstler gezeichnet hat. Doppelt so schön, wie sonst, glänzt heute das silberne Geschnür am Mieder und die goldene Schnur am spitzen Hut – aber schöner als Alles wär’ wohl der Jungfernkranz! An vier Stellen des Weges sind Altäre aufgerichtet für die Evangelien, einer steht auch am Feldkreuz, wo die dichten Buchenzweige den Waldesrand bekränzen. Dort wird der Segen gegeben mit der leuchtenden Monstranz; die Gebirgsschützen aber mit blankem Stutzen und grünem Federhut bilden die Ehrenwache und von den Bergeswänden hallt das Echo der Freudenschüsse hinein in’s Alleluja.

Wenn die Frohnleichnamszeit vorüber ist, beginnen die sogenannten Kreuzgänge zu allen möglichen Zwecken. In Tirol werden sie insbesondere zu Ehren des heiligen Isidor und der heiligen Nothburga gehalten, welche die Schutzpatrone der Dienstboten sind; bei uns in Baiern sind die Ernteprocessionen geläufig, um den Schutz der Früchte gegen Hagelschlag zu erflehen. Darauf halten die Bauern auch heutzutage noch immer viel und die Hauptfrage wenn ein neuer Pfarrer kommt, ist, ob er auch „wettergerecht“ sei. Das heißt etwa so viel: ob er ein drohendes Gewitter von der Gemeinde wegbeten und der Nachbargemeinde auf den Hals laden kann. Auch das „Schaueramt“ (ein Hochamt zur Abwendung des Hagelschauers) wird in den meisten Gemeinden alljährlich gehalten. Die geistlichen Herren hüten selber diesen Rest ihrer Prophetenwürde sehr eifersüchtig, und man hat es einem alten Heißsporn nicht wenig verübelt, als er einst in der Gemeindeversammlung mit der Faust auf den Tisch schlug und ausrief: „Mein Herrgott, für dös Fach ist der Hagelverein.“

Ganz besonders verbreitet in den Bergen ist auch der Mariencultus; sechszig Procent aller Mädchen heißen Midei (Maria), wenn sie schon in der Regel nichts, als den Namen (und hie und da das Kind) mit der Jungfrau gemein haben. Der Maria sind auch die meisten wunderthätigen Stätten geweiht, und unter diese zählt in erster Reihe Birkenstein. Weit und breit bekannt ist die kleine Capelle am Fuße des Wendelstein, und man könnte einen ganzen Menschen zusammensetzen aus all’ den Gliedmaßen, die dort in Wachs gegossen aufbewahrt werden zum Andenken an wunderbare Errettungen. Decken und Wände sind mit Votivtafeln tapezirt, welche in geheimnißvoller Bilderschrift und in verwegenen Hieroglyphen „viel wundersame Mähr“ berichten. Man kommt in wahren Schrecken, wenn man da erst sieht, was einem Alles passiren kann! Damit dies nicht geschehe, gehen alljährlich zahlreiche Bittgänge aus den Gemeinden des Osterlandes zwischen Isar und Inn nach Birkenstein, und wenn der geneigte Leser etwas auf dem Herzen hat, dann braucht er sich nur anzuschließen. Er braucht nicht zu befürchten, daß allzuviel gebetet wird, denn der bunte Tumult eines solchen Kreuzgangs stellt kein Bild der Andacht dar. Der Weg über die Berge ist viel zu weit und mühsam, und eine gewisse Feierlichkeit hält der Mensch nicht lange aus.

Wann es dämmert, zwischen zwei und drei Uhr Morgens, dann versammeln sich die frommen Pilgrime in der Mitte des Dorfes. Das alte Mütterlein trippelt herbei mit dem Rosenkranz zwischen den dürren Fingern, die schmucken Mädchen drehen und wenden sich, um zu sehen, ob sie (Gott) wohlgefällig seien. Wie ein Wespenschwarm schwirren die Buben, welche überall sind, wo „etwas los“ ist, durch die versammelte Menge. Der echte Bauer hat seinen rothen Regenschirm unterm Arm, so oft er auf die Reise geht, und wenn’s auch nicht regnet, so sieht man wenigstens, daß er einen hat. Das Regendach gehört nun einmal zur vollständigen Ausstaffirung und wird mit seinem deutschen Namen Parapluie oder Parasol genannt. Auch der griechisch-germanische Bastard „Paradachl“ hat im oberbaierischen Dialekte das Bürgerrecht. Wer den Bittgang ganz besonders feierlich nimmt, der erscheint im Mantel, denn dieser ist das wahre Festtagskleid der Männer. Daß es Juli ist, thut nichts zur Sache, in der Physik des Bauern heißt es: was gegen die Kälte gut ist, ist auch gut wider die Hitze.

Endlich kommt der Herr Beneficiat im Chorrock, das Brevier in den Händen. Mit dem ganzen Gewicht seiner Erscheinung (einhundertundsiebenzig Pfund) tritt er unter die Menge und ordnet seine frommen Schäflein. Auch die Knaben, die ihm ministriren, machen sich wichtig, denn sie hüten gewöhnlich die Ziegen und heute sind sie Adjutanten des Himmels! Fahnen und Bilder bleiben bei diesem Gang zu Hause, nur ein schlichtes Kreuz wird vorangetragen; ein Vorbeter ist ernannt und beginnt die Litanei zu Ehren der allerseligsten Jungfrau. Im Anfang ist wohl noch innere Sammlung da, und wer dem Zuge begegnet, der bleibt mit entblößtem Haupte stehen. An jedem Hause drängen sich die kleinen goldköpfigen Kinder im Hemdlein an’s Fenster, und die Mutter zeigt ihnen mit der Hand hinauf zum „Himmelvater“. Das sind Augenblicke der Weihe, aber es sind nur Augenblicke. – Wie der Zug bergan von der Straße abgeht, lockert sich die Disciplin; das Beten wird nun programmmäßig eingestellt und beginnt erst, wo die Häuser wieder beginnen. Unwillkürlich erinnert

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_476.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)