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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

muß ja ein erbarmungsvoller und ganz unästhetischer Anblick sein. Nein, das könnte ich nicht mit ansehen, da würde mir das Herz vor Mitleid zerspringen!“

Fürchten Sie nichts dergleichen, meine Schöne; Sie mögen zittern, wenn ein Mensch auf dünnem Seile zu schwindelnder Thurmeshöhe hinauf balancirt; Sie mögen schaudern, wenn der Thierwärter den Käfig seiner wilden Bestien betritt, sie mit der Peitsche schlägt, reizt und dann seinen Kopf in ihren Rachen steckt; Sie mögen bei dem Anblick der lebensgefährlichen Sprünge, Klettereien etc. der Kunstreiter, Seiltänzer, Seilschwenker etc. ein ängstliches Gefühl nicht los werden können, – bei dem Anblick unseres jungen Virtuosen, mit dem blühenden, heiteren Antlitz, dem intelligenten Blick, werden Sie weder einen ängstlichen, noch mitleidigen, noch unästhetischen Eindruck empfangen. Im Gegentheil haben wir nur angenehme Empfindungen und erhebende Gedanken bei seinen Productionen. Wir werden unwillkürlich auf die Betrachtung geführt, welche wunderbare Kräfte und Fähigkeiten in dem Menschen liegen, wovon er selbst keine Ahnung hat, bis ihn die Nothwendigkeit darauf führt, danach zu suchen, sie zu wecken und auszubilden. Wir müssen den für alle Lebensnöthen so trostvollen Gedanken fassen, wie ein empfindlicher Nachtheil durch Muth, Kraft und Beharrlichkeit in einen Vortheil, ein anscheinend sehr trauriges Geschick in ein heiteres umgewandelt werden können. Hermann Unthan ist kein bemitleidenswerther, er ist ein vollkommen zufriedener Mensch. Er ist glücklich durch den Gedanken, sich selbst geholfen, die scheinbare Hülflosigkeit, mit welcher er auf die Welt gekommen, vollständig überwunden zu haben. Den Mangel der Arme empfindet er nicht, denn er hat sie nie besessen. Seine Beine sind seine Arme, seine Füße sind seine Hände, seine Zehen sind seine Finger, und damit vollbringt er Alles, was andere Menschenkinder mit ihren Armen, Händern und Fingern thun. Er kleidet sich selbst an und aus, er wäscht und kämmt sich, er speist und trinkt etc. Seht ihn, wenn er in Gesellschaft seine Cigarre anbrennt, in den Mund bringt, dann seine Tasse Kaffee behaglich dazu schlürft, und ihr müßt recht aufpassen, wenn ihr bemerken sollt, daß er das Alles nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen thut. Ja, er kann sogar unvorsichtig damit gebahren. In seinem dreizehnten Jahre ergriff er eine Flinte, die er für ungeladen hielt, um damit zu spielen, und schoß sich durch die linke Schulter. Der junge Mann ist lebens- und reiselustig und will womöglich die ganze Welt durchziehen, in Begleitung zweier sicherer und gewandter Führer, wovon der eine, immer vorauseilend, die Geschäfte, Wohnung, Concerte etc. besorgt. Möge ihn ein günstiges Geschick begleiten und ihm vor Allem volle Concertsäle verschaffen! Er verdient es, nebenher gesagt, auch durch sein liebevolles, kindliches Gemüth, indem er den Ueberschuß der Einnahmen regelmäßig seinen armen Eltern nach Hause sendet.




Aus meiner Vogelstube.
2.

„Beobachtung bildet überall; jedoch nur Der versteht und genießt die Natur recht, der in und mit ihr lebt.“ Dieser Ausspruch einer geistreichen Frau kam zur vollsten Geltung nicht allein bei der Einrichtung meiner Vogelstube, sondern auch bei der Verpflegung und ganzen Behandlung meiner Vögel. Denn wollte ich einerseits in der Zucht befriedigende Ergebnisse haben, wollte ich andererseits die Lebensweise aller dieser Vögel ersprießlich beobachten, so mußte ich, wie bereits angedeutet, die Verhältnisse, welche die Natur, wohlverstanden aber die tropische Natur ihrer Heimathsländer, ihnen bietet, möglichst treu nachzuahmen suchen. Zugleich mußte ich, außer der erwähnten freiwilligen Zähmung, die Vögel von vornherein so gewöhnen, daß mein häufiges und anhaltendes Verweilen in ihrer Nähe sie keinenfalls störte. Nach dieser kurzen Bemerkung sehen wir uns nun weiter in der Vogelstube um.

Ein immerfort frisch sprudelndes Gewässer feuchtet die Luft und verbreitet Kühle in der tropischen Temperatur, welche durchaus regelmäßig zwischen sechszehn bis zwanzig Grad Reaumur erhalten wird. Zahlreiche, sehr häufig frisch gefüllte und stets äußerst sauber gehaltene Trinkgeschirre, sowie mehrere geräumige und flache Badenäpfe schließen die Möglichkeit aus, daß auch die kleinsten und schwächsten der Gesellschaft nicht stets vollste Befriedigung fänden. Nicht minder reichlich ist dies sowohl in Hinsicht der Anzahl der Futtergefäße, als auch des mannigfaltigen Futters der Fall. Ein Gemisch aus zwei Theilen Hirse, einem halben Theil Canariensamen und je ein sechszehntel Theil Hanf, Rübsen, Mohn, Buchweizgrütze und geriebener Semmel wird trocken gegeben und zugleich allabendlich in ausreichender Menge eingeweicht, zum Quellfutter, welches für die Aufzucht der Jungen durchaus nothwendig ist. Angequellte Ameiseneier im Winter, frische im Sommer, eingeweichte Semmel, namentlich aber zu jeder Jahreszeit frisches Grünfutter (Vogelmiere, Salat oder Grünkohl), ferner stets frischer, trockener und sehr reiner Stubensand, sodann Kalk, am besten Sepia oder frische Hühnereierschalen, auch einige Talgstücke – das sind die Gesammtbedürfnisse, an denen es niemals fehlen darf.

In der einen Ecke des Zimmers, unweit des größten allgemeinen Futterplatzes, steht eine mächtige Tanne, von deren Zweigen dichte Epheuranken malerisch herabhängen, und das ganze, der vollen Mittagssonne ausgesetzte Fenster ist mit verschiedenen, sehr häufig erneuerten Blattgewächsen angefüllt. Denn dieser möglichst reichliche Pflanzenwuchs ist ja zur Luftverbesserung, bezüglich zur Erhaltung der Gesundheit der Vögel nothwendig. Für diesen letztern Zweck ist zugleich die regelmäßige Lüftung mit Hülfe eines Gazefensters ermöglicht, und ein ausgebuchtetes Drahtfenster dient dazu, daß die Vögel bei warmem Wetter sich beregnen lassen können.

Nicht blos in reichlichster Anzahl, sondern auch in größter Mannigfaltigkeit sind sodann die Nistgelegenheiten vorgerichtet. Sie bestehen in dichten Gebüschen verschiedener Art, in Nesthöhlungen und Nestkästen der mannigfachsten Einrichtung und Größe, namentlich aber in vielen und vom Fußboden bis zur Decke der recht hohen Stube hinauf in allen möglichen Variationen angebrachten und meistens mit Nestkörben versehenen Harzerbauerchen Als Nestmaterial werden alle diejenigen Stoffe ausgestreut, welche finkenartige Vögel zu lieben pflegen; doch haben einige ganz absonderliche Neigungen, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Lange und weiche Heufäden, Pferde- und außerdem Kuhhaare, weiche Federn, zarte Würzelchen, Grasbüschel, kurz zerschnittene Baumwollenfäden, Charpie, kleine Wattenflöckchen – das sind die passendsten Dinge zum Nestbau. Sehr beliebt und gesucht sind die dünnen Aestchen der Spargelsträucher, welche namentlich Astrilds und Fasänchen in großem Eifer selbst abpflücken, um daraus sehr niedliche Nester aufzubauen, und als ich kürzlich von Leipzig eine Kiste mit Büchern erhielt, die geleert vorläufig in die Vogelstube gestellt wurde, fiel die ganze Gesellschaft darüber her, um mit den dünnen und weichen Papierstreifen, welche zur Verpackung der Bücher gedient, ihre Nester zu überwölben oder auszupolstern.

Im Uebrigen habe ich bei der Einrichtung der Vogelstube es als die Hauptsache betrachtet, die Grundbedingungen des Wohlgedeihens aller hochorganisirten Thiere: Licht, frische, reine Luft, Wärme und Reinlichkeit, niemals außer Acht zu lassen.

Alle diese fremdländischen Vögel müssen bekanntlich eine entsetzlich trübselige, lange Seereise überstehen, auf der von Tausenden kaum ebenso viele Hunderte am Leben bleiben; Dank ihrer schmiegsamen und elastischen Natur erholen sie sich aber sehr schnell. Ich hatte mit Herrn W. Mieth, dem Besitzer der größten Vogelhandlung in Berlin, ein Abkommen getroffen, nach welchem ich zu ermäßigten Preisen stets die „schlechtesten“ der Ankömmlinge erhielt. Fast völlig federlos, über und über beschmutzt, lahm oder sonst krank, mit hängenden Flügeln, kurz und gut, größtentheils in fast hoffnungslosem Zustande gelangten sie in die Vogelstube; ohne Besinnen haben sie sich dann kopfüber in den Badenapf gestürzt, in erstaunlich kurzer Zeit haben sie sich herausgemustert, ein neues Gefieder bekommen, sich prächtig verfärbt und in wenigen Monaten, ja zuweilen in wenigen Wochen, zu nisten begonnen. Nur sehr wenige sind nachträglich den Reisebeschwerden erlegen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_438.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)