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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Ohne Arme!
Von J. C. Lobe.

Es hat Personen gegeben, die mit den Fußzehen zu schreiben, zu sticken, ja zu malen vermochten. Der Gedanke jedoch, daß ein Mensch ohne Arme ein Violinvirtuose sein könne, ist wohl noch niemals in eines Sterblichen Kopf gekommen. Indeß haben wir vor Kurzem ein solches halbes Wunder in Leipzig gesehen.

Hermann Unthan.
Nach einer im Besitz der Gartenlaube befindlichen Originalphotographie.

Hermann Unterthan, der Sohn eines armen Dorfschullehrers zu Sommerfeld bei Elbing, führt mit seinen Füßen aus, was bis zu ihm nur mit den Händen zu vollbringen möglich schien. Auf einer Art Fußschemel, den Unthan selbst erfunden und vorgezeichnet, liegt die Violine. Vor denselben, auf einen gewöhnlichen Stuhl, setzt sich der junge Virtuos. Nun dreht er die Wirbel mit den Zehen des rechten Fußes und stimmt die Violine auf’s Reinste. Alsdann faßt er den Bogen zierlich und leicht mit der ersten und zweiten Zehe des linken Fußes und greift die Saiten durch Aufdrücken der Zehen des rechten Fußes.

Was er auf diese Weise ausführt, Piècen von Singélée, Meyerbeer, Berriot u. a. m., wenn es auch die rapiden Virtuosenkünste nicht erreicht, grenzt doch immer noch an das Wunderbare. Er trägt nicht allein langsame, gesangvolle Stellen, sondern auch ziemlich schnelle Passagen von den tiefsten bis in die höchsten Tonregionen, über alle vier Saiten gleitend, sauber und rein vor; er producirt Triller mit zwei Zehen so schnell und nett, wie der beste Virtuose mit zwei Fingern; er spielt ganze Reihen von Doppelgriffen in Terzen und Decimen. Was aber fast noch mehr sagen will, er trägt mit geläutertem Geschmack und vieler Empfindung vor, indem er alle Nüancen des Ausdrucks vom Pianissimo bis zu mittleren Stärkegraden in seiner Gewalt hat. Fügen wir hinzu, daß er das durchaus zu vermeiden weiß, was uns bei gar manchen sehr hochgerühmten Virtuosen auf Streichinstrumenten nicht selten peinigt und ihre ganze Spielfertigkeit werthlos macht – das ohrzerreißende Bogenkratzen – und bemerken wir endlich, daß der junge Mann, eben in das zwanzigste Jahr getreten, erst seit drei Jahren seine Kunst treibt, so wird man wohl zugeben, ein Phänomen der seltsamsten Art vor sich zu haben.

Aber – „Ach der Arme! Ohne Arme!“ so hörten wir eine junge Dame bei der Ankündigung des Concertes ausrufen; „das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_437.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2021)