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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Wenigen Rednern reichen die durch Beschluß festgesetzten dreißig Minuten aus, der Hammer des Sprechers fällt unbarmherzig mit dem Zeiger der ihm gegenüber befindlichen großen Uhr, und die Redner setzen sich oft mit der Hälfte eines angefangenen Wortes noch im Munde. Einige Redner vertheilen ihre Zeit zu einer, zwei, fünf und zehn Minuten an Gesinnungsgenossen, selbst an Gegner. Woodward, der pensylvanische oberster Richter und Kupferkopf, bedeckt sich und seine Partei mit unauslöschlicher Schmach, indem er den Präsidenten auffordert, den Congreß mit Bajonetten auseinander zu treiben, während Wastburn von Illinois, General Buttler und ganz besonders Boutwell von Massachusetts, wer für die nächsten zwanzig Jahre oder mehr einer der hervorragendsten Männer der Republik werden dürfte, sich neue unverwelkliche Lorbeeren im Dienste der Humanität, der Republik und der Wohlfahrt ihrer Bewohner erwerben.

Es geht gegen fünf Uhr Nachmittags, die Stunde, mit welcher, nach Beschluß vom Sonnabend, die Debatte beendigt werden soll. Wie es scheint, hat den Bitten des so ausdauernden schönen Geschlechts weder die Gewissenhaftigkeit, noch die Höflichkeit der Thürsteher Widerstand leisten können, und natürlich hat jedes Mitglied desselben auch seinen treuen männlichen Begleiter unter seinen Flügeln mit eingeschwärzt; die Gänge sind gedrängt voll und schon „drängeln“ sich einige verwegene Scharmützlerinnen in den Saal, wo ihnen selbstverständlich sofort Sitze eingeräumt werden. Da erhebt sich auf einem bevorzugten Platze neben dem Sprecher auf der weiten, weißmarmornen Tribüne die Geistergestalt von Thad. Stevens, dem als Berichterstatter das letzte Wort zu stehen. Todtenbleich, schwach und skeletartig auf die marmorne Brüstung gestützt, steht er da, hoch aufgerichtet, und überblickt das eben noch stürmische Meer zu seinen Füßen, das sich unter dem Blicke, der von jenseits des Grabes zu kommen scheint, schnell beruhigt. Todtenstille herrscht. Die Wogen haben sich eilig um den Standort des Helden gesammelt, der im Dienste der Freiheit selbst dem eisernen Griffe des Todes Trotz bietet, um kein Wort der schwachen Stimme zu verlieren, – während die Mehrzahl der Demokraten trotzig auf ihren Sitzen bleibt und Blicke tödtlichsten Hasses auf ihren unbesieglichen Gegner schießt, „der ewig leben will“. Stevens beginnt, – es ist der alte, wohl bekannte Ton, so wenig verwebt mit den Kämpfern und Siegen der Freiheitspartei, es ist die Stimme des fähigsten Repräsentanten, den der Congreß besaß, seit John Quincy Adams seinen großen Geist in jenem Sessel im Hause des Repräsentanten aushauchte, in ihrem Witz, Sarkasmus, ihrer Gutherzigkeit, Popularität und Macht, – aber die Stimme stockt, die Kraft des Veteranen reicht nicht aus, er sinkt auf seinen Sessel, auf dem sich die Blicke von Zehntausend concentrieren. Allein schon im nächsten Augenblicke erholt er sich soweit, daß er seine Rede, welche er, seiner Kraft mißtrauend, niedergeschrieben, dem Clerk des Hauses zum Vorlesen übergiebt, der sie, – ein prachtvoller Erguß reinsten Patriotismus, edelster Humanität und gewissenhaftester Pflichttreue, – mit lauter, Jedem verständlicher Stimme vorliest.

Der Sprecher schließt die Debatte.

Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und es fing an düster im Hause zu werden. Mit dem Herannahen des Momentes der Abstimmung begann die Menschenmasse unruhig zu werden. Die Menge, welche sich an den Thüren herumgequetscht hatte konnte ihr Ungeduld nicht mehr bezähmen und hob an, über die Vordern hinwegzukriechen. Selbst die leeren Nischen in den Galerien füllten sich mit Menschen; in einer standen drei prächtige Negerjungen, in einer anderen zwei wunderschöne blonde Mädchen, sich festumschlungen haltend. Das Gas wurde angedreht und erleuchtete, durch eine hübsche Vorkehrung so eingerichtet, daß es sich plötzlich über die ganze Decke entzündet (in elfhundert Flammen) – auf einmal, als der Clerk ihre Namen aufzurufen begann, den Saal, ein Schauspiel über Beschreibung glänzend und eindrucksvoll. Es war so still wie in einer Kirche, und die Antwort jedes Aufgerufenen konnte von jedem Anwesenden gehört werden. Das Resultat war vorauszusehen. Es war absolut nach den Parteien geschieden; alle Republikaner für, alle Demokraten gegen Anklage. Fünfzehn Mitglieder waren abwesend. Von den einhundertdreiundsiebenzig Anwesenden stimmten einhundertsechsundzwanzig für Anklage und siebenundvierzig dagegen, unter ihnen auch der sonst sich den Republikanern zuneigende specifische Vertreter der Pittsburger Arbeiter. Da die Constitution eine Zweidrittel–Majorität verlangt, so waren mithin zwölf mehr als diese Zahl vorhanden.

Haufen von schwarzen Männern und Frauen waren in dem Gebäude, die in unbequemsten Stellungen, fast niederbrechend vor Müdigkeit, ruhig und still der Ausspruch des Urtheils über sich selbst und ihre Kinder in der Entscheidung der Frage abgewartet hatten, welche lange vor ihrem Ohre verhandelt worden. Als diese nun aus dem Munde des Sprechers ertönte, – da ward es auch ihnen klar, daß Emancipation keine Lüge, keine Falle, kein Betrug gewesen für sie und ihre Race, und daß persönliche Freiheit und politische Gleichheit auch ihnen die Thore geöffnet und sie eingeladen habe, höher und höher zu steigen, – und dennoch waren weder Zurufe, noch Unordnung, noch selbst Beifall hörbar! Die hehre Göttin selbst mit dem Schwerts und der Wage schien über der Halle des Capitols, gefüllt mit weißen und schwarzen Anbetern, zu schweben, unerbittlich in ihrem Vorsatze und mit ernster, strenger Miene! In erster Stille verließen die Massen den Flügel des Capitols und traten in den nordischen Winter hinaus, der seit gestern seine volle Herrschaft wieder gewonnen. Der Norden herrschte in der Natur, er hatte soeben im Hause der Volksvertreter und dadurch in der politischen Lage der Nation den Sieg davongetragen und seinen berechtigten Einfluß auch über den verräterischen Süden gesichert zur Rettung der Republik und zum Wohle der Menschheit! – Ueber die weiteren Verhandlungen, zu denen ich auch persönlich beiwohnen werde, später.

Und nun, nachdem ich wahrheitsgetreu ein Bild des großen Ereignisses der letzten Tage meinen Lesern vorgeführt, möge mir einige Betrachtungen darüber gestattet sein. Unsere republikanische Regierungsform hatte in der kurzen Geschichte der Vereinigten Staaten manche harte Probe zu bestehen. Sie war im Stande, die Sclaverei der Arbeiter von einem Drittheile des Unionsgebietes während neunzig Jahren zu ertragen, und hatte die Kraft, dieselbe Sclaverei zu vernichten, als diese, in ihrem Uebermuthe, der Freiheit und Integrität des Ganzen gefährlich wurde; – sie führte Kriege gegen fremde Regierungen und unterdrückte innere Aufstände; sie überwand den größten Krieg der Neuzeit und überlebte die wichtigste Revolution der Geschichte, die in den Zeitraum weniger Jahre zusammengedrängt; – und jetzt ist es beabsichtigt, einen verrätherischen Präsidenten abzusetzen. Amerika war groß in seinem Kriege, wie in dessen Ende, und die Nationen der Erde zollten ihm willig den Tribut der Bewunderung. Allein die Weise, in welcher die Nation die Anklage des höchsten Beamten aufnimmt, ist wahrhaft erhebend. Niemand, selbst deutsche Staatsrechtprofessoren nicht, wird wohl noch behaupten, daß die Republiken Fehlgeburten sind, denn das republikanische Amerika, jeder Lage gewachsen und jede Regierungsverantwortlichkeit auf sich nehmend, steht heute stolz, sicher und friedlich da, – unter der Herrschaft des Gesetzes und ohne Beeinträchtigung der öffentlichen Moral! Das freie Amerika wird jetzt der Welt zeigen, wie mit einfacher und milder Anwendung des Gesetzes sein Präsident und oberster Befehlshaber des Heeres und der Flotte für seine Verbrechen schnell bestraft und in die Stelle zurückversetzt wird, aus der ihn das mißbrauchte Vertrauen seiner Mitbürger erhoben.




Charakterbilder vom Hofe des Onkels.

1. Der Schulterknochen des heiligen Johannes.

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Madame Lätitia Bonaparte war sehr fromm. Sie verabscheute die Immoralität ihrer Kinder aus tiefstem Herzen, denn sie war fünfundfünfzig Jahre alt. Der Papst Pius der Siebente faßte eine besondere Zuneigung zu der frommen Matrone, und sie machte sich dieser Zuneigung würdig. Ihre Bibliothek bestand aus hundertneunundsiebenzig Gebetbüchern und vierhundertundsechsundsechszig Bibeln. Ihr Lieblingsbrevier, ein Geschenk des Cardinals Maury, war vom heiligen Franciscus mit einem eigenhändigen Commentar verziert. Dieses unschätzbare Kleinod bildete aber nur einen kleinen Theil einer ebenso seltenen wie kostbaren Sammlung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_233.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)