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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Emil spricht einige Worte nach. Der Pater Rector deutet mit dem Zeigefinger nach oben und fragt mehrmals: „Wo ist Gott?“ Endlich hebt der Affenmensch ebenfalls den Finger und stößt dabei die Silbe „stah, stah“ aus. Wir hören, daß diese Silbe bedeuten soll: „Was ist das?“ und in der That wird dieselbe bei jeder Gelegenheit mit scharfer Betonung des durch die Zähne gezischten s hervorgebracht. Er soll außerdem das Wort „Muda“ (Mutter) aussprechen. Wir hören nur noch „Ah Diah! Ah Diah!“ von ihm, während er den Umschlag meines Pelzrockes streichelt. Er hält den Marderpelz an die Wange, nimmt die Hand eines Jeden, um diesen auch den Pelz streicheln zu lassen; offenbar will er sagen: „Ein Thier! Ein Thier!“ Eine wahre Glückseligkeit strahlt bei dieser Entdeckung aus seinen Zügen und stets kommt er wieder auf den Pelz und das vermeintliche Thier zurück.

Emil R. beim Anhören von Musik.


Die höchste Erregung und Spannung malt sich aber auf seinem Gesichte, wenn eine Drehorgel gebracht wird, die eine jämmerliche Melodie quiekt. Den Zeigefinger zum Himmel erhoben, „stah! stah!“ hervor pressend, wiegt er sich auf und ab auf den Füßen, während das weite Maul grinst und die Augen vor Entzücken strahlen. In dieser Stellung hat ihn Freund Seel aufgefaßt und mit wenigen markigen Strichen festgehalten. Die Erregung steigert sich, der Pater Rector muntert ihn auf, den Tact zu schlagen und sich tanzend zu wiegen; endlich stürzt er sich auf das Instrument, sucht die Handhabe zu fassen und mit rasender Energie zu drehen. Ließe man ihn gewähren, er würde drehen und tanzen, bis er erschöpft zu Boden fiele.

„Wie ist wohl die Entstehung eines solchen Wesens zu erklären?“ werde ich gefragt, nachdem der Junge wieder abgeführt ist. „Es ist mehr Affe, als Mensch – Affe seinem Betragen, seiner Intelligenz, seiner Sprachlosigkeit, dem Aussehen seines Kopfes nach – und doch von Körper nicht schlecht gebildet und von wohlgebildeten, intelligenten Eltern erzeugt!“

Ich suche die Ergebnisse meiner Forschungen in kurzen Umrissen darzustellen. „Der eigentliche Schädel, die knöcherne Kapsel mit den beiden darin eingeschlossenen Hälften des großen Gehirnes,“ sage ich, „sind dem Affentypus entsprechend gebildet und entwickeln sich nach denselben Wachsthumsgesetzen, welche für den Affen maßgebend sind. Das Großhirn, der Sitz der Denkthätigkeit, ist kaum so groß, wie beim Affen, seine einzelnen Theile sind wie beim Affen gebildet – die Function entspricht dem Organe – ein Affengehirn kann keine Menschengedanken erzeugen. Deshalb fehlen alle jene Eigenschaften, die den Menschen als höheres, denkendes Wesen charakterisiren: die articulirte Sprache, die Fähigkeit der Abstraction und was Alles noch Philosophen, wie Moralisten, ja selbst Naturforscher als specielle geistige Attribute der Menschengattung gegenüber dem Thiere angesprochen haben. Damit hört aber auch die Aehnlichkeit auf. Wie thierisch auch der Ausdruck des Gesichtes sein mag, seine naturgeschichtlichen Charaktere sind menschlich: die convexe Nase, der durch die Lippen hindurch fühlbare untere Nasenstachel, Anordnung und Gestalt der Zähne, das vorspringende Kinn – alles dies gehört dem Menschen, aber der niedersten Race, an. So schiefstehende Zähne, so vorgezogene Kiefer finden Sie kaum bei einem Australier, geschweige denn bei einem Menschen höherer Race, von welcher doch das Individuum stammt und der es auch seinem übrigen Körper nach angehört.

So haben Sie denn in dem Affenmenschen eine Zusammenschweißung dreier an und für sich verschiedener Typen, des Affen im Schädel und den höheren, denkenden Theilen des Gehirns, des Menschen niederster Race im Gesicht, des Menschen höherer Race im Körper. Das ganze, gewissermaßen unnatürliche Gemisch entwickelt sich langsam unter widerstrebenden Tendenzen; der Kleinkopf bildet sich nur langsam aus, ist vielleicht in der Jugend mehr schädlichen Einflüssen ausgesetzt und bleibt zuweilen zwergenhaft, oft aber wird er groß, mannbar, kräftig und erreicht ein tüchtiges Alter. Nach den Ergebnissen der Untersuchung, die freilich nicht durch die Erfahrung bestätigt sind, unterliegt es kaum einem Zweifel, daß diese Wesen fortpflanzungsfähig sind und vielleicht unter sich Kinder haben könnten.“

„Das Alles giebt aber noch keine Antwort auf meine Frage,“ sagte einer der Anwesenden. „Wir fragen nach der Entstehung solcher Bildungen, und Sie antworten mit einer Analyse ihrer Zusammensetzung.“

„Gemach, gemach! Erst, denke ich, muß man wissen, was ein Wesen ist; dann kann man fragen, wie es geworden ist. Packen wir jetzt die Sache bei der Wurzel an.

Zwei große Gesetze ziehen sich, wie die rothen Fäden durch alle Taue der englischen Kriegsmarine, durch die ganze organische Natur: das Gesetz der Vererbung und das Gesetz der Veränderlichkeit. Beide gehen Hand in Hand, beide können schlummern, nicht sichtbar in die Erscheinung treten während langer Zeit, einander gegenseitig beschränken, aber nie vollständig aufheben. Jeder Organismus trägt in sich die ganze Geschichte seines Aufbaues mittels der steten Concurrenz dieser beiden Kräfte – jeder Durchgangspunkt, bei welchem die Vorfahren stehen blieben, kennzeichnet sich in der Entwickelung des Nachkömmlings durch ein vorübergehendes Bildungsstadium. Daß die Eltern eine Summe von Charakteren auf ihre Nachkommen verpflanzen, brauche ich nicht nachzuweisen; Sie sehen dies alle Tage, sehen auch, daß diese Charaktere erst in bestimmtem Alter auftreten, bis dahin aber ruhen. Allein nicht minder deutlich ist die Veränderlichkeit. Kein Kind ist den Eltern absolut ähnlich. Jeder Organismus hat also in sich die Fähigkeit, sich zu ändern; aber in den meisten Fällen kommt diese Fähigkeit nur zur Production sehr unwesentlicher Resultate. Auch das kann nicht wundern. Jedes Ei, jeder Keim hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln und ein selbständiges Wesen zu werden, – Suchen Sie aber einmal zu berechnen, wie viele Eier eines Bandwurms dazu kommen, wieder ein Bandwurm zu werden, und Sie werden zu dem Resultate gelangen, daß von einer Million Eier vielleicht nur ein einziges das ihm gesteckte Ziel erreicht, indem es den günstigen Boden, die zu seiner Existenz nöthigen Nebenbedingungen findet. Ganz so die Organismen. Jeder trägt den Keim der Veränderlichkeit in sich; unter Millionen findet vielleicht nur einer die nöthigen Nebenbedingungen zur Entfaltung dieses Keimes und das erreichte Resultat vererbt er auf Nachkommen.“

„Ich sehe noch immer nicht, wo das hinaus soll,“ warf Einer ein.

„Gleich sollen Sie bedient werden. Wenn Vererbung wie Veränderung ihre Resultate in die Geschichte des Organismus einschreiben, wenn beide während gewisser Zeiten und durch Generationen hindurch latent bleiben können, um beim Eintreten günstiger Bedingungen sich zu offenbaren, so können wir uns erklären, warum in den Generationsfolgen oft Erscheinungen auftreten, die außerhalb des gewöhnlichen Entwickelungsganges sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_205.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)