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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 1.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.




Der Schatz des Kurfürsten.[1]
Historische Erzählung von Levin Schücking.


1.

Das Jahr 1807 nahte sich seinem Ende. Napoleon hatte durch einige neue blutige Schlachten, durch einige neue Vergewaltigungen empörter Völker im Laufe desselben die Welt seinem großen Ziele, der Herrschaft des ewigen Friedens, um mehrere Etappen näher gebracht. Er hatte in demselben Gedanken, in seinem rastlosen Drang, die Segnungen der Civilisation zu sichern – so priesen es die kaiserlichen Hofrhetoren – ein ganz neues Königreich geschaffen. In Ermangelung eines besseren hatte er ihm den Namen Westphalen gegeben. Die Hauptstadt dieses „Westphalens“ war die alte Landgrafenresidenz Cassel geworden. Seine Provinzen waren aus aller Herren Ländern zusammengeschnitten; die Grenzen waren von der Willkür gezogen worden, und dieselbe Willkür hatte einen hoffnungsvollen jungen Marineofficier als König desselben angestellt, dem der zusammengeflickte Herrschermantel vortrefflich zu seinem krausen Haar und seinem lustigen Italienergesichte stand.

Der Hof des „niedlichen Königs“ Jerôme residirte auf der Wilhelmshöhe, die nun die Napoleonshöhe hieß; hoch über dem Frontispiz des Schlosses erhob sich eine schlanke Fahnenstange und daran flatterte die französische Tricolore, mit dem neuen Wappen des neuen Königs eines neuen Reiches in der Mitte. Der junge Seemann ließ lustig seine Flagge wehen, dem scharfen, kalten Nordwinde zum Trotz, der zornig über den Habichtswald herüberblies und sie hin- und herpeitschte, als ob er sie in Stücke zerreißen wollte, aber vergebens; der Sturm, der sie in Stücke zerriß, sollte von einer andern Seite kommen.

Derselbe scharfe Winterwind, der sich so mit König Jerôme’s Flagge raufte und an der Stange rüttelte, ohne sie bezwingen zu können, spielte auch mit dem langen, grünen Reitermantel eines hohen, starkgebauten jungen Mannes, welcher, die Allee von Cassel herauf kommend, dem Schlosse zuschritt und zuweilen sich wenden mußte, um die Enden seines Mantels, wenn der Wind sie weit auseinander geweht hatte, wieder um sich schlagen zu können. In solchen Augenblicken sah man, daß er die hübsche grüne Uniform eines neu gebildeten westphälischen Regiments trug … unter dem Mantelkragen verrieth sich eine auf der linken Schulter liegende Epaulette; der junge Mann mußte also Lieutenant sein.

Er hatte ein hübsches, höchst gewinnendes Gesicht, welches weit davon entfernt war, Züge classischer Schönheit zu zeigen; es war mit seiner stark ausgebildeten Stirn, seinen breiten Wangen, seiner kurzen Nase gewiß nicht danach angethan, zum Modell eines Bildhauers zu dienen, aber es verrieth die volle Kraft und Frische der Jugend. Die unter starken Brauen ein wenig tief liegenden braunen Augen leuchteten von Intelligenz, von Jugendmuth und vielleicht auch Uebermuth; um die vollen rothen Lippen des Mundes lag ein Zug von großer Gutmüthigkeit, und Alles in Allem, auch der beste Patriot konnte dies blühende, vom Sturm und der Anstrengung des Kampfes mit ihm doppelt geröthete Gesicht nicht ansehen, ohne diesem „deutschen Jünglinge“ in der französischen Uniform gut zu werden.

Von dieser französischen Uniform konnte ja auch er wohl sagen: „Ach, es war nicht meine Wahl!“ wie es Tausende mit ihm sagten!

Von einem der Baumstämme in seinem Wege leuchtete ihm ein großer weißer Anschlagzettel entgegen, halb abgerissen, so daß unten die Fetzen des Papiers im Winde flatterten und gegen die Rinde des alten Baumes schlugen – oben aber stand die Zahl 100,000 mit weithin sichtbaren großen Ziffern darauf gedruckt.

„Hunderttausend Franken!“ murmelte der junge Mann, flüchtig den Zettel mit den Augen streifend und weiter schreitend. „Ein Schuft würde für weniger zum Verräther! Wozu so viel?“

Er schritt, als er in die Nähe des Schlosses bis an das große Bowlinggreen gekommen, rechts ab, dem Gebäude des Marstalls zu. Die Seitenthür zu demselben stand weit offen und ließ in eine lange düstere Perspective blicken, aus der wie eine monotone Musik der Schall von aufgestampften Hufen und das Auf- und Niederrollen der Halfterketten – dazwischen das ungeduldige Gewieher und Schlagen eines Pferdes, der zornige Ausruf eines Stallknechts drangen. Dunkle Gestalten, Männer in grauen Stalljacken, bewegten sich im Mittel- und Hintergrunde dieser Perspective, aber kaum sichtbar mehr, denn in dem tiefen, langen Raum herrschte bereits völlige Dämmerung. Ganz hinten wurde schon die erste der in der Mitte des breiten Ganges hängenden Laternen angezündet.

Der Officier warf seinen Mantel zurück, als er in die behaglich warme Atmosphäre eintrat, welche den Raum erfüllte.

Bei einem der Pferdestände, in welchem ein Stallbedienter beschäftigt war, einem stattlichen Rappen die Abendstreu unterzuwerfen, blieb er stehen.

„Guten Abend, Wilhelm,“ sagte er, „ich komme aus der Stadt und bringe Dir einen Gruß von Deiner Mutter.“

„Ich danke Ihnen, Herr Lieutenant,“ antwortete der junge Mann, wie es schien, mißvergnügt.


  1. Auf Grundlage mündlicher Mittheilungen und mit Benutzung einer Aufzeichnung des Herrn F. W. Hagedorn in Minden. D. Verf.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_001.jpg&oldid=- (Version vom 4.10.2021)