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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

vorfindet. Die Commerz-Deputation besitzt ebenfalls vier Zimmer; eins ist den Versammlungen „Eines Ehrbaren Kaufmannes“, wie der übliche Ausdruck lautet, vorbehalten. Endlich hat man mehrere sehr geräumige Zimmer den Besitzern des großen, weltbekannten Blattes „Die Börsenhalle“ überlassen, die das unter demselben Namen bekannte Lese-Institut eingerichtet haben, in welchem so ziemlich alle größeren Zeitungen der ganzen civilisirten Welt zu finden sind. Engländer, Franzose, Spanier, Portugiese, Italiener, Russe, Däne, Schwede, Holländer etc., Jeder kann hier in seiner Landessprache die Ereignisse des Tages verfolgen, wenn er das Bedürfniß fühlt, mit den Begebenheiten der Zeit sich bekannt zu machen.

Die Vorderseite der obern Etage nimmt ein Saal von 41 Fuß Breite und 70 Fuß Länge ein, welcher vorzugsweise als Vorversammlungsort dient, ehe die eigentliche Börse beginnt. So oft die Telegraphen von irgend welchem Orte eine Nachricht von Wichtigkeit melden, mag sie nun politischer oder mercantiler Natur sein, wird sie hier öffentlich angeschlagen oder vielmehr ausgelegt, so daß Jeder sich nach Belieben damit vertraut machen und, sind die Telegramme geschäftlichen Inhaltes, seine Maßnahmen sofort treffen kann. Die Börsenbesucher werden durch diese schnelle Veröffentlichung aller einlaufenden Telegramme vollkommen unterrichtet von dem Stande der kaufmännischen Angelegenheiten in den Haupthandelsplätzen der ganzen Welt, was von unberechenbarer Tragweite für den großen kaufmännischen Verkehr und für das Abschließen aller Geschäfte ist.

Betrachten wir den innern Raum der Börse, wenn derselbe leer ist, so fallen uns zunächst die numerirten, jetzt mit schönen Marmorplatten bekleideten Pfeiler in die Augen, auf welchen der obere Corridor ruht, und diesen zunächst nehmen wieder die vielen Quarrés, aus denen der Fußboden besteht, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Frage: zu welchem Zwecke ist der ganze Börsenraum so eigenthümlich verziert? liegt nahe; ebenso schnell aber ist auch die Antwort darauf gegeben. Es hat nämlich unter den Tausenden, welche täglich Jahr aus Jahr ein ihrer Geschäfte wegen die Börse besuchen, Jeder seinen bestimmten Platz in dem weiten Raume, den er nie wechselt. Dem Fremden wie dem Einheimischen giebt über den Platz jedes einzelnen Börsenbesuchers das „Börsenbuch“ genaue Auskunft. Es fällt mithin auch bei dem stärksten Gedränge im Versammlungsräume nicht schwer, immer seinen Mann sogleich zu finden, sobald man nur erst den Pfeiler weiß, in dessen Nähe das zu ermittelnde Quarré sich befindet.

Eine weitere Erleichterung gewährt die Einrichtung, daß alle an der Börse vertretenen Geschäftsbranchen eine bestimmte Anzahl Quarrés für sich inne behalten. So stellen sich z. B. die Schiffsmakler an beiden Längenseiten des innern Raumes zunächst den Maklercomptoiren und Geschäftszimmern auf. Die Rheder mit ihren Capitainen sammeln sich im Angesicht des Pfeilers 19 nebst Umgebung. Die oberländischen Schiffer nebst den Schiffsprocureuren nehmen eine Anzahl Quarrés unter dem Corridor der hintern Börsenseite ein und grenzen zunächst an die Zuckerleute. Den freien Raum, der sich von dem offenen Corridor herab bequem übersehen läßt, erfüllen, von Norden nach Süden gerechnet, Getreidehändler, Fabrikanten, Commissionäre, Detaillisten, Oelhändler, Theeleute, Droguisten etc. Dann folgen Wechsel- und Fondsmakler, Importeure und Exporteure etc. Der erst seit einigen Jahren überdachte Raum zwischen der Börse und den Börsen-Arcaden, welcher in früherer Zeit frei und jedem Unbill des Wetters ausgesetzt war, ist größtenteils der Tummelplatz der stets äußerst belebten Kornbörse und der die Börse ebenfalls besuchenden Advocaten.

Vertreten auf der Börse ist im Allgemeinen jede geschäftliche Thätigkeit vom Bankier und stolzen Rheder, die über Millionen commandiren und mit den meisten kaufmännischen Notabilitäten der alten und neuen Welt in fortwährender Verbindung stehen, bis auf Maurer-, Zimmer- und Küper-Meister. Alle ordnen ihre Angelegenheiten an jedem neuen Tage auf der Börse, nehmen hier Aufträge und Bestellungen an, wechseln und tauschen, Der klingende Münze, Jener Kaffee oder Reis, ein Dritter Samen, ein Vierter Tabak, ein Fünfter Hanf, Theer, Wachs und dergleichen mehr. Genug, es giebt so leicht keinen denkbaren Handelsartikel, der an der Börse nicht angeboten und verkauft würde, noch werden könnte, natürlich immer nur in großen Quantitäten; denn dem Kenner seiner Branche sind Lumpen ebenso werthvoll und kostbar, als einem Andern seine Gewürze oder nordische Producte, und Perlenmutterschalen, Elephantenzähne und Hornspitzen werden nicht lebhafter begehrt als etwa Schweinsborsten, Heringe, Felle und Häute.

Es ist dem eingeborenen Hamburger, wie den zahllosen Eingewanderten, die durch glückliche Unternehmungen an der Börse sich zu bedeutendem Vermögen emporgearbeitet haben, nicht zu verdenken, daß sie stolz sind auf ein Institut, dem Hamburg seine Größe und Macht als Welthandelsstadt vorzugsweise verdankt. Darum spricht fast Jeder mit einem gewissen vornehmen Respect von der Börse, und die Frage, welche dem Fremden fast immer zuerst vorgelegt wird: „Waren Sie schon an der Börse?“ bedeutet für Hamburg ungefähr dasselbe, wie in Rom das unvermeidliche Wort: „Haben Sie schon den Papst gesehen?“

Die Börse kennen lernen aber und sie verstehen kann man nur zur Börsenzeit. Es wolle deshalb der Leser so freundlich sein und uns zu dieser für die Kaufmannswelt so wichtigen Stunde dahin begleiten.

Bereits um zwölf Uhr Mittags beginnt in unmittelbarer Nähe der Börse und namentlich auf dem Adolphsplatze ein regeres Leben. Im Bankgebäude, gegenüber den Alsterarcaden, strömt es ununterbrochen aus und ein, denn es ist die Zeit des „Abschreibens“ gekommen, jenes bequemen Zahlungsmittels, das der Hamburger erfunden hat und mittelst dessen die größten Summen in kürzester Zeit von Einem zum Andern wandern, ohne daß man nöthig hat, mit Vor- und Nachzählen die kostbare Zeit zu verlieren.

Von der Bank verfügt sich ein Theil dieser frühen Ankömmlinge entweder in die Lesezimmer der Börsenhalle, um die neuesten Zeitungen zu durchblättern und Politik zu studiren, oder er betritt den großen, schon erwähnten Börsensaal, wo die neuesten Telegramme ausliegen, welche Auskunft geben über den Stand des Disconto in London, Berlin, St. Petersburg, Amsterdam etc. Wen diese Frage nicht speciell interessirt, der erkundigt sich nach andern für den Kaufmann nicht minder wichtigen Angelegenheiten, unter denen der Stand der Staatspapiere mit obenan stehen dürste. Diese gefährlichen Papiere haben schon gar Manchem großes Herzeleid gebracht, während sie Andern zu Wohlhabenheit und Reichthum verhalfen. Ignorirt aber können sie von keinem Kaufmanne werden, denn die Speculation ist der große Hebel, durch dessen geschickte Handhabung der Glückliche halbe Wunder bewirken kann. Je bunter nun die Telegramme lauten, je animirter oder gedrückter die Stimmung in Wien, Frankfurt, Paris, London etc. ist, desto ernster, heiterer oder düsterer gestaltet sich die Gesammtphysiognomie im Börsensaale, der sich immer mehr füllt, und wo bereits in allen Ecken, an Fenstern und Thüren gefragt, gelauscht, gefühlt, geforscht, angeboten, abgeschlagen, bejaht und verneint wird. Es summt und rumort, als bereite sich irgend etwas Ungeheueres vor. Alle sprechen, und doch redet eigentlich Keiner recht verständlich. Es ist ein kolossales Geflüster, von Hunderten unterhalten, und zwar zu dem Zwecke, den Alle gleichmäßig im Auge haben, möglichst große und einträgliche Geschäfte zu machen. Der Eine lacht, der Andere lächelt nur; dieser giebt sich den Anschein, als ginge ihn die ganze Welt nichts an, um unter dieser Maske der Gleichgültigkeit eine gewagte Speculation auszuführen. Eine Menge stets geschäftseifriger, immer dienstfertiger und flinker Kinder des auserwählten Volkes, den feingebürsteten Cylinder, auch Angströhre genannt, tief in den Nacken geschoben, wodurch die adlerkühne Physiognomie noch um Vieles unternehmender sich gestaltet, fahren und schlüpfen aalgewandt hin und her, und erfahren natürlich mit dem ihnen angeborenen Talent zum Speculiren Alles, was ihnen dienlich sein kann, um „zu machen ein brillantes Geschäft“. – Lebhafter noch und bunter geht es in der kurzen Spanne Zeit von Zwölf bis Ein Uhr im Zingg’schen Kaffeehause zu, das der Börse gerade gegenüber an der Ecke des Adolphsplatzes und des Mönkedammes gelegen ist. Hier versammelt sich eine Unzahl von Menschen in den eben so glänzend wie heiter ausgeschmückten Räumen, wo der Gourmand an einem vortrefflichen Büffet alle Gelüste seines Gaumes befriedigen, der Freund des Spiels an einer Anzahl vortrefflich construirter Billards Unterhaltung suchen, und der trockne Geschäftsmann sans gêne in aller Gemächlichkeit sich über die wichtigsten Gegenstände des Handels mit Gleichgesinnten unterhalten und unterrichten kann.

Nicht mit Unrecht nennt man das Zusammensein so vieler kaufmännischer Größen im Zingg’schen Hotel die Vorbörse; denn ohne Geräusch, bei einer Tasse Bouillon, einem Glase Wein, einem Butterbrod, heiter plaudernd und Cigarren rauchend, werden hier

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_774.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)