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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

getauft –, der inzwischen erwacht und von seiner Amme aufgenommen war, unruhig wurde, und wir gingen wieder hinein, auch um uns zum nahen Mittagsessen umzukleiden. Denn so ungenirt mein Vater sonst lebte und dachte, auf dergleichen hielt er ebenso streng, wie meine Mutter, und er selber erschien niemals in dem Anzuge bei Tische, in welchem er vom Felde oder vom Hofe hereinkam. So trennten wir uns denn, und ich hatte Zeit, auf meinem einsamen Zimmer über den Morgen mit seinen Ergebnissen nachzudenken. Lange währte das freilich nicht, denn ich war kaum fertig, als Christian mich zu dem inzwischen angelangten Alten hinabrief.

Ich fand ihn, wie ich ihn immer gekannt, ruhig und behaglich, jetzt sichtbar durch meine Ankunft erfreut und überhaupt in der ihm möglichen besten Laune. Wir waren in seinem Schlafzimmer, und er kleidete sich während unserer Unterhaltung um. – Für Euch, wenn Ihr ihn so gesehen hättet, vermuthlich ein possirliches Bild: während er die schweren Reitstiefeln mit sauberen Schuhen und den festen Tuchrock mit einem feinen von hellerer Farbe vertauschte, brachte Christian zugleich seine Frisur wieder in Ordnung und band ihm den Haarbeutel ein, und dabei ließ der alte Herr die kurze Pfeife keinen Augenblick aus dem Munde – sie mußte ausgeraucht sein, wenn zu Tisch gerufen wurde.

„Was denkst Du nun von Hierbleiben oder Reisen?“ fragte er mich, zwischen den Zähnen heraus, währenddem. - „Darüber hab’ ich noch nicht recht nachgedacht,“ sagte ich. „Aber wenn ich nur eine Thätigkeit fände, bliebe ich schon daheim, glaub’ ich.“ – Christian blinzelte mich über den sitzenden Alten hin schlau lächelnd an, und dieser Letztere selbst, der gerade die Schnallen an seinen Kniehosen befestigte, meinte nach der herkömmlichen Behaglichkeitspause: „Recht, Junge! Sollst sie haben. Hab’s mit Deinem Bruder abgemacht, daß wir die Röder’schen Güter dereinst zum Majorat schlagen, die ich eigentlich für Dich gekauft, und daß Du dafür die beiden dort drüben bei Deinem Schwager Büren schon jetzt erhältst. Julius wollte zuerst nicht recht daran, und die Alte und der Gerold setzten ihm noch mehr Flausen in den Kopf – dumme Gesellschaft das! Die Röder’schen liegen für’s Majorat bequem, wenn sie auch nicht so gut sind. Denn das sind die anderen, nur arg herunter, weil sie uns stets aus den Augen lagen. Da kannst Du schaffen, daß Dir die Knochen knacken, aber es lohnt sich auch. Nun, die Kleine, die Livia, und ich haben’s denn zuletzt gewonnen. Bedanke Dich bei ihr, Junge, ’s ist eine schlaue Hexe. Und nebenher hat sie – schlaue Hexe, sage ich! – ausgeheckt, daß der Rittmeister auf Dedenhof nur die eine Tochter hat, ein schmuckes Ding, jung, reich – kennst sie wohl noch selber, da sie mit der Livia vordem gespielt. Lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge.“ –

So redete er, und wenn Ihr ihn gekannt hättet, brauchte ich nicht extra hinzuzusetzen, daß das Alles natürlich nicht in einem Zuge, sondern in vielen Absätzen herauskam, daß er mittlerweile fertig angekleidet war und noch vor dem letzten Worte die Klapper zum Mittagsessen rief. Das „lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge,“ sagte er schon auf dem Flur, so daß ich nichts mehr hätte erwidern können, selbst wenn ich gewollt. Denn mit den nächsten Schritten spazierten wir schon zu Livia in’s Speisezimmer hinein, und war ich noch nicht consternirt genug gewesen über das, was ich gehört, so wurde ich’s nun über das, was ich zu sehen kriegte – die Livia sprang dem Alten entgegen und küßte ihn, und er duldete das nicht nur, sondern erwiderte es auf’s Wärmste und schaute sie schier zärtlich an und sprach so hin. „Nun, Du Goldkopf? Rechte Freude gehabt über den Jungen da?“ So was hatte ich von dem Alten noch nie erlebt und war stumm vor Ueberraschung.

Wir aßen, der Alte ging zu seinem Nachmittagsschlaf, und Livia und ich waren wieder allein und beredeten die Sache. Sie war wunderbar einsichtsvoll, da sie über das Geschäftliche, sie war lieblich und hinreißend, als sie mit leiser Befangenheit über die Heirathspläne sprach, welche richtig in ihrem eigenen kleinen Kopf ausgeheckt worden waren. „Helene ist schön und gut und heiter,“ sagte sie; „Du wirst es auf’s Beste mit ihr haben, Felix. Sie ist auch noch frei, wie ich weiß; es müßte denn sein,“ setzte sie schelmisch lächelnd hinzu, „daß Du selbst ihr noch von früher her im Herzen geblieben wärest.“ – So sprach sie noch lange auf mich ein, die Sache von allen Seiten beleuchtend, bis ich endlich, den dies Alles halb zu lachen machte, halb verwunderte, offen fragte: „Aber was hast Du denn für einen seltsamen Trieb, mich „unter die Haube“ zu bringen, Kind?“ – Es zuckte etwas durch ihr Gesicht, was ich nicht zu deuten wußte, allein es kam mir fast wie eine Art Schreck vor. Doch alsbald hatte sie ihn überwunden und lächelnd versetzte sie: „Nun, Felix, das ist doch begreiflich! Ihr seid meine beiden ältesten und liebsten Jugendfreunde, die ich so gar gern vereint sähe. Dann bist Du fest und bleibst da – Vetter Büren und Du dort, wir übrigen hier, mein lieber alter Papa dazwischen – denke, welch’ ein reizendes Leben das werden kann, so einig, so innig, so herzlich!“ Und indem sie mir jählings die Hand über den Tisch hinbot, setzte sie mit einem von Herzinnigkeit leuchtenden Blick hinzu: „Und siehst Du, Cousin, ich wünsche Dir von so ganzem Herzen eine frische, frohe, befriedigende Thätigkeit! Denn leugne es nur nicht, all dies Untertreiben hat Dich zuletzt müde und traurig gemacht und Dir nicht genügt. Du bist doch ein Mensch für die Ruhe und Freuden der Heimath!“

„Das mag wohl sein,“ erwiderte ich gedankenvoll und ließ damit das Thema fallen. Ich grübelte über all diese Pläne und noch mehr über das, was Livia selbst auf solche Weise denken und reden lassen möchte. Die Güter da drüben neben Büren waren allerdings verwildert und vernachlässigt, allein trotzdem, wie ich sehr wohl wußte, die besten fast, die wir besaßen, die Röder’schen dagegen allerdings bequemer gelegen, zum Theil aber in jenen Sandstreifen hineinreichend, der sich, wie Ihr wißt, gleich einem gewaltigen alten Strombett durch das ganze Land zieht. Es war gar kein Vergleich zwischen diesen und jenen, und ich fand Julius’ Widerstand sehr gerechtfertigt und sein Nachgeben zum mindesten unerklärt. – Die Tochter des Rittmeisters auf Dedenhof – Gentzkow hieß er – war sicher reich und noch jung, vielleicht auch liebenswürdig und hübsch, aber Letzteres wußte wenigstens ich nicht. Ich erinnerte mich ihrer kaum, Spielgefährtin war sie, während ich dort weilte, uns so gut wie nie gewesen, um so weniger, da der Vater ein bärbeißiger Mann war, der mit allen Nachbarn ziemlich übel stand. – Was war also das Alles und wie hing es zusammen, was lauerte dahinter – bei meinem Vater nicht, aber bei Anderen, zum Exempel hier bei Livia?

Wie dem allen auch sei, lange währte es mit diesen Grübeleien trotzdem nicht, denn des Gesprächs- und des Denkstoffs war ohnedies kein Ende zwischen ihr und mir. Der Tag verging, es folgten ihm andere ähnliche, ruhige und schöne, ich hatte seit langer Zeit oder eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl des Daheimseins, der Heimath, mit all dem Glück, dem Frieden und Zauber, den dieser Begriff umschließt. Es ist ein eigen Ding, Vetter, wenn man niemals so zu sagen eine bleibende Stelle hatte und nun mit einem Mal nicht nur sieht, sondern selber fühlt, was es heißt, eine solche zu haben. Die angenehme und warme Häuslichkeit, die ich vordem als Kind im Hause des Onkels gefunden, aber natürlich nicht zu würdigen verstanden hatte, traf ich jetzt im Elternhause bei und unter Livia wieder. Sie war ein reizendes Hausmütterchen und verstand es, den Ihren wohl werden zu lassen. Mein Vater war ein ganz anderer Mensch, die Dienstleute waren voll Dienstfertigkeit und Zufriedenheit, und ich – ich sog dies Glück in vollen Zügen ein und dachte nicht an sein Ende.

„Von meinem Verkehr mit der Cousine oder Schwägerin in diesen Tagen ist wenig zu sagen,“ redete der Alte nach einem tiefen Athemzuge weiter; „er war wie er in solcher engen Häuslichkeit, bei solchem einsamen Leben sein mußte, stündlich, intim, herzlich, gefärbt und geregelt durch alle Stimmungen, die Tag und Leben im Menschen hervorrufen. An die Frau dachte ich gar nicht, wie diese mir auch so gut wie nie vor Augen kam, denn von Julius als ihrem Gatten war meines Wissens kaum jemals die Rede, wenigstens betonte Livia das begreiflicher Weise nicht, wie sie denn seinem Vater und Bruder gegenüber auch keinen Grund dazu hatte. Ich sah nur das junge Weib, die Mutter vielleicht, vor allem aber die mir von jeher bekannte und vertraute Verwandte, die mir näher stand als meine Schwestern, weil wir uns im Alter näher waren und jahrelang wie wirkliche Geschwister zusammen gelebt hatten.“

(Fortsetzung folgt.)




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