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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sagte er. „Und sie wird eine mächtige Freude haben über Eure Ankunft, denn sie hat mit dem Herrn, wie ich wohl gemerkt, alle Tage –“

Ich wandle mich ab, ohne ihn auszuhören, ging und trat aus dem Gartensaal auf die kleine Plattform, die noch jetzt dort ist, und schaute mich um. Damals stand dort, wo nun die junge Linde, ein uralter Baum derselben Art, der das halbe Dach des Hauses überschattete und thurmhoch überragte. Ein Februarsturm 1805 hat ihn umgeworfen, und ich pflanzte dazumal auf seinem Platz den jungen Baum an. Nun also, die unteren Zweige des alten hingen rings umher fast auf den Boden hernieder, bildeten um die Bank und den Steintisch eine wirkliche, prachtvolle Laube, und dort, in dem Schatten des jungen, von der Sonne überschimmerten Laubes, saß Livia mit einer Handarbeit neben dem Korbe mit dem schlummernden Erbprinzen von Hohensee.

Livia halte mich bisher nicht bemerkt und erst, da ich nach einer Weile des stummen Schauens hinabgestiegen war und schon nahe vor ihr stand, sah sie auf, fuhr überrascht empor, erröthete; wir erhoben, wie auf einen Antrieb, im gleichen Augenblick die Hände und legten sie ineinander, und dann sagte sie, tief aus der Brust heraus: „Felix!“ – nichts weiter. Und ich sprach gepreßt auch nur ein: „grüße Sie Gott, Schwägerin!“ – Dann schaute ich sie schweigend an.

Sie war, wie sie hatte werden müssen, wie es das Aeußere des Kindes verheißen, und doch – wenigstens in diesem Augenblick – so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte; denn in meiner Erinnerung herrschten noch die Züge und Linien, die ich vordem an dem Kinde geliebt und auch bei meiner letzten Anwesenheit an dem knospenhaften Mädchen wahrgenommen. Von dem Allen war nichts mehr da. Das Zierliche und Schmächtige hatte dem Feinen und Schlanken Platz gemacht, das Rasche und Kecke dem Sanften und Leisen. Das reizende Köpfchen mit den fröhlichen und beweglichen Zügen war zu einem schönen Kopfe geworden, der auf dem weißen Halse sich wie eine Blume wiegle, anmuthig erhoben, anmuthig geneigt, mit einem Gesicht von weichster Jugendlichkeit und taubenhafter Sanftheit. Kurz, mein Freund, das Kind war inzwischen doch zum Weibe geworden, und zwar zu einem engelhaft schönen Weibe, dessen Hauptausdruck der der reinsten Jungfräulichkeit und der süßesten Unschuld war. Das sprach sich auch, und zwar am deutlichsten, in den Augen aus, welche ganz und gar die alten geblieben zu sein schienen. Kurz, das Ganze ist unbeschreiblich, wie das Einzelne, wie der geheimnisvolle Zauber, der sich leise daraus hervorspann. Ich weiß nur Eins, was Livia’s Wesen und Erscheinung Euch deutlich machen kann – wenn man vor ihr war, sie sah, sie hörte, so konnt’ es Einem werden, als ob ihn ein volles, sanftes, melodisches Glockenläuten umtöne und Leib und Seele in Frieden und Ruhe wiege. Und das, mein Freund, ist nicht das Resultat dieser meiner ersten Begegnung mit ihr, sondern eines langen, innigen Umganges, und es ist das Urtheil Aller, die sie näher kennen lernen durften.

So standen wir Hand in Hand und schauten uns an. Und endlich rafft’ ich mich auf – die Situation war drückend oder lächerlich, wie Ihr wollt – und sagte so einfach hin: „Ich bin überrascht und erfreut, Sie hier und so wiederzufinden, Schwägerin, nicht nur genesen, sondern gesund! Wo aber ist der Erbprinz?“ - Sie ließ mich ruhig ausreden; die Hände hatten sich gelöst, die Nöthe hatte ihre Züge verlassen, die in ruhiger, klarer Schönheit vor mir lagen. Da ich schwieg, sah sie mich noch einen Augenblick gleichsam nachdenklich an und dann fragte sie in einem Tone, den ich nicht näher bezeichnen kann: „Warum heißt Du mich aber „Sie“, Felix?“

Lächerlich war der Ton eigentlich nicht, lächerlich sah sie nicht dabei aus, lächerlich war mir selber keineswegs zu Muthe, und dennoch lachte ich auf diese Frage hell auf – ich erfuhr, weiß Gott, erst durch diese, daß ich sie „Sie“ geheißen, so benommen war ich! – und bot ihr die Hand und meinte: „Nun, Livia, hab’ ich’s gethan, so hab’ ich’s gethan. Wo in der ganzen Welt redet man denn seine Schwägerin übrigens mit „Du“ an?“ – Da ging auch durch ihr Gesicht ein sonniges, schelmisches Lächeln, und sie versetzte, mit dem Finger drohend: „Vetter, Vetter, Du lügst mir da was vor! Bin ich doch vor der Schwägerin Deine Cousine und Deine Spielcameradin gewesen! Allein Du bist nun ein feiner, galanter Herr, ein großer Reisender, ein Hofmann geworden und magst von der armen kleinen Landfrau nichts mehr wissen, hast am Ende so eine Art Grauen vor ihr? Also sei’s darum – wir haben auch noch ein paar Manieren. Seien Sie mir bestens willkommen, Herr Kammerjunker!“ Und sie machte dazu eine prachtvolle Verneigung, wie sie trotz alles darin liegenden Spottes das Herz jedes Tanzmeisters entzückt und der feinsten Menuet à la reine am Hofe zu Stockholm zur Zierde gereicht haben würde. Blitz noch einmal, was war’s für ein Weib in diesem Augenblick! Mit solcher königlichen Anmuth der Haltung des Gesichts, mit solcher stolzer Grazie der Bewegung, mit solcher Feinheit des Blicks! Wo hatte ich meine Augen gehabt, als ich vorhin nur die Sanftheit und Weichheit, fast Träumerei und Melancholie in diesen Zügen entdecken wollte? Und – „wo habe ich meine Augen gehabt?“ fragte ich mich noch einmal, als sie, von der Verneigung sich aufrichtend, nun unmittelbar mit einem so schelmischen und leuchtenden Lächeln in dem lieben Gesicht mir fast ungestüm herzlich beide Hände hinbot und sagte: „sei mir tausend Mal willkommen, thörichter Vetter! Ich freue mich ja so ganz unmenschlich, daß ich Dich einmal wiedersehe!“

Es zog mir wie ein voller Frühlingsjubel in’s und durch’s Herz; ich schüttelte ihre Hände, als seien wir noch einmal Kinder und Spielcameraden, ich lachte sie fröhlich an und rief ihr zu: „Ja, Livia, liebe Livia, wir sind thöricht gewesen! Aber nun ist Alles recht! Ich – Du sahst’s mir wohl an, wie ich mich über Dich freue! Und nun zeige mir den kleinen Kerl dort im Korbe!“ –

Vetter, es war ein Anblick, der nicht zu beschreiben ist, wie sie mir nun vorauseilte, voll fröhlichster Lieblichkeit sich über den Korb beugte, mich lächelnd heranwinkte, die Decke ein wenig lüftete, mir den dicken, gesunden, schlummernden Burschen zeigte, den Finger auf den Lippen, daß ich ihn nicht störe, voll Stolz und Jubel der Mutter, voll keuscher Befangenheit und süßer Scheu des jungen Weibes, das dem Jugendfreund zum ersten Mal als ein solches entgegentrat. Sie war so hinreißend schön, so unaussprechlich hold und lieblich in dieser Mischung, wie auch ich sie weder früher noch später wieder gesehen, und als sie nun flüsterte: „sie sagen, er sei mir ähnlich, Felix?“ – kam mir das schier wie eine Lästerung vor. Wer glich diesem engelhaften Wesen, so weit die Erde sich dehnt und die Menschen darauf hausen? Und nun gar der dicke Bursche da, der, wie alle Kinder in solchem Alter, noch keiner Menschenseele glich – oder vielleicht allen, da man aus den unentwickelten Zügen eben noch alles Mögliche herausfinden kann! – Und so versetzte ich denn auch mit verdrießlichem Lachen: „Ach. dummes Zeug! Ich sehe nur, daß es ein gesunder Junge ist, von dem noch kein Mensch aus der Welt sagen kann, ob er häßlich oder hübsch oder sonst was wird. – Nährst Du ihn selbst?“

– Es flog ein Schatten durch das eben noch so sonnig heitere Gesichtchen, da sie entgegnete: „Ach nein, ich darf’s nicht. Meine Brust soll zu schwach sein, sagen sie. – Das ist ein Schmerz, Felix! – Aber nun komm herein,“ brach sie ab und wandte sich fort, „daß ich auch als Hausfrau für Dich hungrigen und durstigen Menschen sorge.“

Es geschah nach ihrem Willen, denn ich war nicht sentimental genug, um nicht wirklich Hunger und Durst zu spüren. Wir saßen dann drinnen, wir gingen wieder hinaus, plaudernd, lachend, scherzend, kurz seelenvergnügt, wenn auch von Zeit zu Zeit über sie so gut wie über mich eine Art von Träumerei kam, die Munterkeit dämpfend, unwillkürliche Pausen im lebhaftesten Plaudern hervorrufend, ohne daß zum wenigsten ich wußte, wovon oder weshalb ich träumte. – Sie erzählte mir viel und ließ mich einen Einblick in alle Verhältnisse und Zustände der Heimath und der Menschen daselbst gewinnen. Sie sprach mit Wehmuth von ihrem Vater, der stumpfer von Tag zu Tag wurde; sie redete mit warmer Liebe von den Meinen, mit Respect von der Mutter, mit einer gewissen gleichgültigen Freundlichkeit – anders als freundlich schlug dies goldene Herz fast nie – von Julius, ihrem Gatten; nur vom Baron Gerold sagte sie kein Wort, sie wich nicht nur jeder Bemerkung über ihn, sondern auch der Nennung seines Namens aus, so daß ich endlich geradezu fragte: „Nun, und der Onkel Gerold? Hast Du etwas gegen ihn, Livia?“ – Da schüttelte sie leise den Kopf und versetzte: „Laß das ruhen, Felix. Du hast den Baron nicht in Dein Herz geschlossen, so viel ich weiß, und ich auch nicht.“

Es war mittlerweile spät geworden, die Sonne brannte durch das Gezweig, so daß der Kleine – sie hatten ihn auf meinen Namen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_723.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)