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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Bruder die Nachricht, daß ein Bote von Sollnitz da – die Wöchnerin sei jählings schwer krank geworden, so daß der Schreiber (Wirthschafter) gleich nach dein Arzt geschickt, der glücklicherweise bei einem Kranken in der Nachbarschaft weilte, und den Bruder bitten lasse, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Mein Bruder wurde leichenblaß, er war ein durchaus sorgloser Mensch, der nur in und für die Gegenwart lebte und niemals an etwas möglicherweise Kommendes dachte, so daß dergleichen, wenn es einmal kam, ihn dann jedesmal zuerst beinah’ um und zu Boden warf. Andererseits war er aber auch wieder derb genug geartet, um sich alsbald wieder aufzuraffen, und so stand er denn auch jetzt gleich darauf fest auf seinen Füßen, und als die Mutter anzuspannen befahl, weil sie mit hinüberfahren wolle, da versetzte er bestimmt: „Nichts da, Mutter, Schwester Büren kommt mit, die ist ihr vertrauter. Nicht wahr, Hedwig, Du kommst?“ – Die Mutter ließ sich piquirt auf ihren Sophaplatz zurücksinken, die Schwester machte sich reisefertig. Sie fuhren ab.

Am Abend kam Botschaft – es stehe zwar noch nicht gefährlich, aber immerhin schlecht genug, um demnächst das Schlimmere und Schlimmste zu erwarten.

Es war am folgenden Tage ein unendlich trübseliges Tauffest, denn das wurde der kranken Mutter wegen nicht verschoben, Vetter. Es war dazumal noch selten, daß man damit auch nur bis zum dritten Tage wartete. Julius ging umher, als habe er eine Centnerlast auf sich liegen, die Uebrigen waren zum Theil freilich sichtbar betrübt und gedrückt, zum Theil aber noch mehr gereizt, ohne daß ich für’s Erste begriffen oder erfahren hätte, was eigentlich vorgefallen. Eine Andeutung erhielt ich freilich bald. Denn als ich nach dem Act zu dem Onkel Hans Peter trat, der am Fenster stand und leise den stolzen Hohenfriedberger Marsch auf der abgethauten Scheibe abtrommelte, und als ich dem alten Mann ein paar tröstende Worte zu sagen versuchte, da lächelte er schwermüthig vor sich hin und meinte: „Ja siehst Du, Felix, wir haben das Alles vorausgesagt, es war und ist kein Glück in dieser Ehe. Aber sie wollten ja nicht auf uns hören; Dein Vater und ich, wir sind eben alte Leute und gutmüthig, Du warst nicht da, und so mußt’ es denn gehen, wie’s ging. Stirbt mir aber das Kind – nun gut, nun gut!“ brach er dann plötzlich ab. „Ich hab’s ihnen deutlich gesagt, und so mag es nun ruhen, bis der Herrgott das Weitere fügt.“

Abends, als wir heimkehrten, ritt ich mit dem Schwager Büren zusammen, während die Anderen fuhren. Julius war beim Abschied sehr niedergedrückt gewesen, und ich warf nach einer Weile nur so gedankenvoll hin: „Das sind denn die Freuden des Ehestandes!“ – „Unsinn, Schwager!“ entgegnete Büren ernst. „Das gehört auch mit dazu; am ewig blauen Himmel stürbe man vor Langeweile, Wolken und Stürme erproben und unterhalten die Liebe und vermehren sie. Julius hat seit gestern Abend in meinen Augen gewonnen; ich sehe doch, daß ihm an der Frau etwas liegt, und daß er sich vom Gängelbande losgemacht hat. Das wird auch das arme Kind, wenn es uns erhalten bleibt, mit andern Augen zu ihm aufsehen und nach und nach zufriedener werden lassen.“

„Schwager, was heißt das Alles? Ist Livia gezwungen worden zu etwas, das ihr nicht willkommen, – und Ihr habt’s gelitten?“ fragte ich gepreßt. „Schenke mir reinen Wein ein – Euere Briefe sagen ja nichts, und Mühl ergeht sich in Dunkelheiten.“ – „Hältst Du mich vielleicht für ein altes Weib, das jetzt hinterher schwatzt, explicirt und lamentirt, wie’s hätte sein können und sollen und wie’s geworden?“ gab er mir mit hörbarem Verdruß zurück. „Wende Dich an Deine Schwester, die versteht so was und wird’s Dir genau sagen. Ich habe nur Eins für Dich, und das ist, daß Du ein unsinniger Narr gewesen und Dein Glück muthwillig verloren hast; daß Du gar nicht verdientest, wie die beiden Alten sich für Dich gewehrt. Aber das läuft in der Welt umher und verliert Sinn und Verstand!“ fuhr er noch grollender fort, und wie vorhin der Onkel, setzte er abbrechend hinzu: „der Alte hat ganz Recht, wenn er ihnen sagt: den Tod des Kindes würden sie und Du auf dem Gewissen haben. Dir wär’s nicht gestorben. Das glaub’ ich selber.“ – „Schwager,“ sprach ich noch gepreßter und nach einer langen Pause, denn das Herz war mir voll zum Zerspringen; „hat sie denn irgendwie anders an mich –“ – „Frage sie selber, wenn Du Lust hast,“ unterbrach er mich barsch. „Ich sage kein Wort mehr darüber.“

Somit saß ich denn fest und schwieg wie betäubt, so daß selbst der Ton, den der Schwager gegen mich angeschlagen und den ich zu anderer Zeit von keinem Menschen ertragen haben würde, an mir vorüber ging, ohne daß ich darauf acht gab oder, die Wahrheit zu sagen, etwas darauf zu erwidern wußte. Mir war zu Muth, als habe ich eine schwere Sünde auf mir, und ich wußte doch kaum, was es für eine war, wie ich sie hätte vermeiden sollen!

Die nächsten Tage gingen still hin, von Sollnitz hörten wir immer noch das Gleiche: es werde nicht besser. Die Milch war ihr, wie man es damals hieß, in den Kopf gestiegen, und man sorgte daher nicht allein um ihr Leben, sondern auch um ihren Verstand. Julius war niedergedrückt und wich mir sichtbar aus; ebenso machte es Hedwig, wenn ich hinüberkam. Ich selber freilich suchte, wie Ihr denken könnt, auch keine erörternden Gespräche, denn so dumpf ich auch war, ich hatte doch eine Art Gefühl davon, daß Schwager Büren mit jenem Nachtgespräch eine kaum verzeihliche und noch weniger erklärliche Thorheit begangen haben müsse – zu erklären nur auf die Weise, daß er bei mir ganz andere, als die wirklich vorhandenen Gefühle vorausgesetzt und daß er in dieser widerwärtigen Affaire herbe Kämpfe mit – irgend Jemand zu bestehen gehabt habe.

Hier in Hohensee war erst recht der Teufel los. Vater und Mutter waren, jedes in seiner Weise, verdrießlich; der Onkel redete tagelang kein Wort, Baron Gerold ließ sich nicht sehen, ich, selber endlich hatte, ganz abgesehen von meinem gegenwärtigen Zustande, auf dem langen Umherstreifen die rechte Ruhelust verloren und fühlte mich jetzt daheim und zwischen den Meinen wie verrathen und verkauft. So nahm ich denn mit einer Art Freude den Vorschlag der Mutter an, nach Stockholm zu gehen, um König Gustav von unserer Loyalität zu überzeugen. Denn unsere Familie war schlecht angeschrieben, seit hundert Jahren war kein Hohensee mehr in schwedischen Diensten gewesen, und man flickte uns allgemach, wo man konnte, am Zeug.

Meine oder vielmehr der Meinen Absicht gelang auf’s Beste; es ging drüben Alles vortrefflich, man wollte mir wohl, der König selber hatte für mich ein paar seiner bezauberndsten Blicke und Worte – Gustav III. verstand dergleichen bekanntlich wie kein anderer Monarch seiner Zeit. Man gab mir ohne mein Zuthun den Titel als Kammerjunker, ich sollte partout dableiben, in Dienst treten. Das wollte ich nicht, denn ich hatte eine Art Grauen vor jedem Staatsdienst – es war ja kein Krieg da, wo ich hätte nützen können! – und noch mehr vor dem Treiben dieser liederlichen und gewissenlosen Hofpartei hier, dieser landes- und hochverräterischen Adelspartei da. Ich riß mich also nach einigen Monaten aus dem Wirbel der Feste los und kehrte in die Heimath zurück – freien Herzens. Ich wußte, daß Livia lebe und genesen sei, und die Dummheiten des Winters hatte ich in dem Gedanken überwunden: sie ist die Frau deines Bruders, du hast bisher niemals tiefer für sie gefühlt, und was sonst auch hätte geschehen können und mögen, es ist keine Rede mehr davon.

Ich hielt mich noch hie und da auf, und wir waren schon über die Mitte des Mai hinaus, als ich hier wieder anlangte. Das Haus war still; der Vater natürlich auf dem Felde, die Mutter hauste seit acht Tagen bei ihrem Bruder, dem eben noch ein kleiner Spätling geboren war. „Aber die junge Gnädige sitzen im Garten,“ schloß der alte Christian, der mich empfangen hatte, seinen Bericht.

„Die junge Gnädige?“ wiederholte ich verwundert. „Wen meint Er, Christian?“ – „Nun, Junker, Bruder Julius’ Frau, die Frau Livia,“ sagte er gleichfalls wie verwundert über meine Frage. – „Wer denn? Cousine Livia? Unmöglich!“ rief ich immer überraschter. „Wie käme die jetzt hieher? Wo ist denn mein Bruder?“ – „Auf vierzehn Tage verreist,“ versetzte er; „wohin, weiß ich nicht. Und da es unserm alten Herrn hier ohne Frau und Kind zu einsam wurde und die Livia in Sollnitz auch so mutterseelenallein saß, so machten sie’s aus, daß sie herüberkäme und dem Herrn inzwischen Haus hielte. Er hat doch sein Herz an die junge Gnädige gehängt, und sie verdient’s. Sie ist ein Engel von einer Frau, Junker,“ schloß er, „und der Kleine, der uns im Winter all die Molesten gemacht, ein wahrer Staatskerl von einem Kinde.“ – „Sie ist im Garten?“ fragte ich gedankenvoll oder war’s zerstreut, ich weiß das nicht. Mir war wunderlich zu Muthe. – „Ja, im Garten, Junker, unter der Linde,“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_722.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)