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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Das Haus in Karlshof war dazumal noch alt und sehr beschränkt, für mich und einen Hauslehrer wäre kaum Platz gewesen, und da ich über die Anfangsgründe hinaus war und, wie gesagt, Soldat werden sollte und wollte, ließ man’s bei dem Unterricht bewenden, den mir täglich in einigen Morgenstunden der kurz zuvor angestellte und verheirathete Prediger in Liebenhagen ertheilte – Magister Gotthold Mühl, Euer trefflicher Vater, Vetter, ein Mann nach dem Herzen Gottes, der die Liebe seines Schülers bald in einem Grade zu gewinnen wußte, wie es nur einem einzigen Menschenkinde in noch höherem gelang.

Karlshof und Liebenhagen liegen, wie Ihr wissen werdet, kaum eine halbe Stunde von einander, eine Strecke, die mein kleiner rauhköpfiger Oeländer[1] Teufel mit mir stets in der halben Zeit zurücklegte. So ritt ich denn Morgen für Morgen hinüber und kam, wenn ich nicht einmal beim Onkel Hans Peter blieb, zu Mittag wieder heim. Einen Besuch auf dem Hofe stattete ich aber alle Tage ab, und es kam je länger, desto häufiger vor, daß ich mich dabei lange genug verweilte, um den Onkel lachend sagen zu lassen: „Na, Junge, nun bleib’ nur da und iß mit uns. Zu Haus’ kriegst Du nichts mehr.“ – Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

Als ich nach Karlshof kam, Anfang August Anno 76, war mein Onkel seit etwa sechs Jahren verheirathet, und seine Frau hatte, wie ich schon erwähnt habe, „die schöne Ribnitz“ geheißen. Es wird mit solchen Beinamen sonst gewöhnlich nicht so ernst genommen, und häufig genug ist’s nur eine Bezeichnung wie eine andere, von irgend einem näher Stehenden einmal zufällig aufgebracht, von Anderen, der Kürze wegen, willig angenommen. Hier traf es jedoch zu, wenn ich auch hinzusetzen muß: gewissermaßen, – denn meine Tante war eigentlich weniger schön, als lieblich, anmuthig und holdselig; um „schön“ zu sein, fehlte ihren feinen Zügen nicht nur die classische Reinheit, sondern auch die classische Ruhe. Es sprach Euch daraus der reichste Geist, die liebenswürdigste, kindlich reine Seele an, Ihr fandet darin Leben und Bewegung, wenn auch beherrscht und geregelt durch das, was der Grundsatz ihres ganzen Seins und Wesens war – durch Sanftmuth und Anmuth. Kurz, sie war ein wundervolles und wunderliebes Geschöpf, das selbst meine Mutter einigermaßen für sich eingenommen, und dem alle Anderen, die ihm nahe standen, eine schier abgöttische Liebe und Verehrung weihten. Von ihrem Mann, meinem braven, alten Onkel, will ich gar nichts sagen. Wäre er nicht von so ruhigem Temperament gewesen, so hätte er ihren Verlust, der ein paar Jahre später eintrat, nicht überlebt. Er verlor ohnehin darüber fast den Verstand.

Sie hatten nur ein einzig Kind – ein Mädchen, bei meiner Ankunft vier Jahre alt – und es hieß Livia. Ich muß zu diesem Namen bemerken, daß damals bei uns in einigen Familien die Sitte, oder vielmehr Unsitte, herrschte, die guten deutschen Namen zu verachten und aus der Fremde die möglichst hochtrabenden herbeizuholen. Die Prediger waren im Allgemeinen widerstandslos. Halb waren sie damals zu indifferent, halb wagten sie keine Einwendungen gegen den Wunsch des Patrons; ich rede hier nämlich hauptsächlich von den Adelsfamilien. – Meiner Tante Familie war eine solche neuerungssüchtige, die „schöne Ribnitz“ hieß Livia, und so war denn auch ihr Kind getauft worden.

Es ist das hübscheste, heiterste, anmuthigste Kind gewesen, das ich jemals gesehen, das Ebenbild seiner Mutter, bis auf die Farbe der Augen – meine Tante hatte veilchenblaue, die Kleine dagegen, wie mein Vater und Onkel und auch ich selbst – graue, wohl verstanden aber rein graue, mit keiner grünlichen oder bräunlichen oder gelblichen Mischung wie wir, und sie blieben so bis an ihr Lebensende. Es waren – ich rede sonst nicht gern in Gedichts- oder Romanausdrücken, aber bei Livia traf diese Bezeichnung zu, – „wunderbare“ Augen, voll Melancholie und Träumerei in der Ruhe, voll einer herztiefen Innigkeit in der Theilnahme, voll einer glänzenden und doch süßen Fröhlichkeit in der aufwallenden Jugendlust – an Schnitt, Tiefe und Reinheit denen der Mutter gleich, d. h. tadellos, kurz, Augen, mit denen schon das Kind jeden empfindenden Menschen bezauberte, so daß er nicht mehr von ihnen loskam. Das habe ich früher und später oft genug gehört und beobachtet und am besten an mir selber erfahren.

Meine Neigung zu Kindern und meine Gabe, mit ihnen umzugehen, sie anzuziehen, zeigte sich damals schon fast in derselben Stärke und demselben Umfange wie später. Die Kleine hing an mir und ich an ihr, wie mit Ketten und Banden, und wenn ich die Schönheit und Güte der Tante abrechne, die auf mich, den lebhaften Knaben, einen tiefen Eindruck machten und mich stets mit bewundernder Zärtlichkeit der holdseligen Frau nahen ließen, so war es im Grunde nur Livia, die mich stets wieder in das alte Hofhaus lockte und mich immer länger und glücklicher dort verweilen machte. Mein Onkel nannte uns bald scherzend „das Ehepaar“, meine Tante nickte dann mit mildem, freundlichen Lächeln dazu und verfolgte uns und unser Treiben mit ihren liebevollsten Blicken, und Livia erklärte mit großem Ernst, daß wir freilich ein solches Paar seien und es auch bleiben wollten. Ich selber hatte keine Einwendung, und, was mir natürlich erst viel später klar wurde, Niemand schien sie zu haben. Alle, die bei Gelegenheit von diesem Scherz erfuhren, lachten dazu und hatten sich hinterher irgend eine Bemerkung zuzuflüstern. Aber nun genug davon und zu anderen Dingen. Es geht jetzt rascher vorwärts.

Von Hause hatte ich in diesen zwei Jahren wenig zu hören bekommen, und zu sehen bekam ich noch weniger. Zwei oder drei Mal fuhren wir zu Familienfesten nach Hohensee oder sahen die Meinigen bei uns; ein paar Mal erschien auch mein sonst nicht reiselustiger Vater in Liebenhagen oder Karlshof und war dann in seiner Weise freundlich gegen mich, das war aber auch Alles, und ich kann nicht behaupten, daß ich nach mehr verlangt hätte. Es ging mir eben gar zu wohl in der neuen Heimath. Von der Mutter weiß ich nichts weiter zu sagen, als daß sie bei den paar Begegnungen, meiner Erinnerung nach, weder wärmer noch nachsichtiger gegen mich war. Wir schienen uns immer fremder zu werden.

Im Frühling 1778, als die Kriegsgerüchte immer lebhafter wurden, ließ ich mich nicht länger halten. Mein Vater und Onkel, so einfache Leute sie auch waren, hatten doch gute Connexionen, und da ich für meine zwölf Jahre ungewöhnlich groß und stark war, so gelang es ihnen wirklich, mich bei den Baireuth-Dragonern unterzubringen. Ich marschirte richtig schon in den letzten Maitagen mit dem Regimente aus.

Von den nächsten zehn Jahren ist verzweifelt wenig zu sagen, denn von dem Sinn und Unsinn, den ich als Standartenjunker, Cornet und Lieutenant mitmachte, erlaßt Ihr mir wohl zu reden, Vetter. Es war das Gewöhnliche, und das ist genug. Nur das will ich anführen, daß mir allgemach ein etwas ernsterer Sinn kam, der über die Armuth des Dienstlebens hinausstrebte, so daß der alte Bülow mich einmal wegen meiner „federfuchserischen“ Neigungen gehörig abkanzelte. Nun, das währte so fort, bis ich im Jahre 1785, wo ich neunzehn alt war, endlich zu einem ernsten Streit mit meinem Rittmeister kam, der mir gleichfalls wegen jener Neigung gram war; es erfolgte nach den unglaublichsten Scheerereien ein Duell und in Folge dessen, wie es bei der Weise der alten Majestät nicht ausbleiben konnte, ein kurzer Festungsarrest und meine Entlassung. Ein paar Jahre zuvor hätte mich das noch unglücklich gemacht; jetzt war es mir gerade recht. Ich ging nach Frankfurt an der Oder, dann nach Göttingen und studirte – allerlei, Vetter. Heutigen Tags würde man einen solchen Studiosus etwa einen Cameralisten heißen. – Obgleich die Wissenschaften gerade nicht in meinem Sinn tractirt wurden – das Studentenleben selber reizte mich wenig, denn es war nicht sowohl wild, wie ich selber, sondern vielmehr ordinär – hielt ich an jedem Ort doch ein volles Jahr aus. Dann ging ich nach Hause, um zu sehen, was hier etwa für mich zu hoffen sei, vor allem aber, um von meinem Herrn Papa einen anständigen Wechsel zu einer größeren Reise heraus zu schlagen.

Ich fand, wie Ihr es nehmen wollt, viel und wenig verändert. Meine Tante war schon drei Jahre todt – so lange war ich nicht daheim gewesen – mein Onkel ging umher wie ein Träumender oder Irrsinniger und wurde sichtbar immer schwächer und willensloser. Meine arme kleine Cousine zählte fünfzehn Jahre und hatte statt der Jugendlust und des Jugendglücks wenig Anderes als Trauer, Kummer und Unannehmlichkeiten aller Art, wie sie in einem so großen, Herrn- und aussichtslosen Hausstande, den sie mit dem besten Willen nicht vollständig in Ordnung erhalten konnte, niemals ausbleiben werden. Von Karlshof hatte sie auch keine Hülfe, da Büren mit den Seinen schon seit einigen Monaten in seiner alten Heimath weilte, eine Erbschaftsangelegenheit zu betreiben, die sich

  1. Kleine, lebhafte und kräftige schwedische Pferde, noch bis auf den heutigen Tag in diesen Gegenden häufig und gern gebraucht.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_707.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)