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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

wenn Ihr die Sache einmal von anderem Standpunkt betrachten wollt, das Schlimmste war – ich hatte bei meinem Trotz nicht allein die Zustimmung fast sämmtlicher Hausgenossen, die den Baron ebenso wenig leiden konnten, wie ich, sondern ich erlauschte auch einmal das ungewöhnlich feste Wort des Vaters an meine Mutter: „er soll auch nicht mit!“ –

Da geschah es eines Tags im Anfang August 1776, daß ich Nachmittags um die Vesperzeit vom Felde nach Hause kam, und zwar hatte ich den Weg als Lenker eines der großen Erntewagen zurückgelegt und das schwere Fuder vollkommen geschickt vom Felde bis zum Hofe und sogar in die Scheune hineingebracht – denkt Euch selber, wie stolz das einen Knaben machen mußte, der noch nicht elf Jahre zählte! – Und die Leute hatten mir freundlich zugelacht und mir lobende Worte zugerufen, und mein Vater, der, neben dem Scheunthor stehend, diese Fahrerei mit angesehen, schmunzelte und sagte sogar: „na, es geht ja!“ Und als ich aus dem Sattel geglitten war und glühend vor Hitze und Aufregung an ihm vorbei einem andern abfahrenden Wagen zusprang, um das gleiche Kunststück zu wiederholen, hielt er mich an, strich mir über den Kopf und sprach in seiner ruhigen Weise: „Genug, Junge! Geh hinein und laß Dir ein Butterbrod geben. Nachher will ich Dir die schwarze Stute satteln lassen, und Du sollst mit mir zu Felde reiten.“ – Das war nun freilich eine unerhörte Auszeichnung. Auf einem wirklich für mich gesattelten Pferde war ich noch nicht gesessen und noch weniger mit dem Vater ausgeritten. Das war sogar dem Bruder Julius, der dazumal schon seit Jahr und Tag fort und beim Regiment, niemals eingeräumt worden, und mit vor Glück wirbelndem Kopfe folgte ich der Weisung und eilte hinein.

Im Eckzimmer – während der Ernte wurde zur Vesper stets der Eßtisch wirklich gedeckt – wäre freilich mein rechter Platz gewesen, allein ich wollte vorüber und mir mein Brod von der alten Mamsell in der Speisekammer holen; es schmeckte mir dort besser. Doch indem ich vorbeischießen wollte, öffnete sich die Thür, der Baron Gerold trat heraus, packte mich am Arm und zog mich mit den Worten in das Zimmer: „Du hast Recht gehabt, Ulrike, da ist er, und er wollte wirklich wieder vorbei! Das macht das schlechte Gewissen! Aber wir haben Alles gesehen, Bürschlein, und nun sollst Du vor’s Bret.“

Ich war so bestürzt von diesem jähen Anfall und noch mehr von diesen Worten – ich war mir keines Unrechts bewußt –, daß ich zuerst den Onkel wie verdummt angestarrt haben mag. Jedoch faßte ich mich alsbald, ich machte mich ungestüm los und rief: „Was wollen Sie von mir? Ich muß mir ein Butterbrod holen. Papa will mit mir ausreiten!“ – „Ich will Dir was mit ausreiten!“ sagte er und faßte mich wieder hart an. „In’s Loch sollst Du, Bube! So will’s Deine Mutter, damit Du Manier und Gehorsam lernst und Dich nicht mit den Knechten gemein machst. Wir haben Dein Fahren wohl gesehen, Bube! Der Knecht, der Dir’s erlaubt, soll schon seine Hiebe haben, und wenn Du nicht nachgiebst, kann es Dir auch so werden. Es scheint mir damit überhaupt einmal an der Zeit, Ulrike! Der Bube ist nicht mehr zu bändigen.“ – Meine Mutter redete nicht, sondern nickte nur finster, und da setzte er hinzu: „und nun hinauf und Dich nicht gemuckst, bis man Dich wieder herunter ruft.“

„Mein Papa hat mich aber für das Fahren nicht gescholten, sondern gelobt,“ sprach ich heftig und suchte mich vergeblich von dem harten Griff loszumachen. „Ich soll mir ein Butterbrod holen und mit ihm ausreiten.“ – „Also auch noch Lügner?“ fuhr er mich an. „Wir wissen’s wohl, daß Dein Vater auf dem Felde ist.“ – Und da riß ich mich los mit Gewalt, denn ich kleiner Kerl hatte Ehrgefühl in mir, und schrie ihn an: „Ich lüge nicht, Herr Baron, aber Sie thun’s! Und Sie haben mir nichts zu befehlen!“ – „Was wagst Du, Bube?“ rief meine Mutter und sprang auf, und der Onkel langte aus und gab mir eine harte Ohrfeige, die mich zurücktaumeln machte; der große Ring, den er trug, traf mich empfindlich, so daß ich meine Hand, mit der ich unwillkürlich nach der Wange fuhr, leicht blutig zurückzog. Und er murrte grimmig, „ich will Dich schon bändigen, Kröte!“ und holte zum zweiten Schlage aus. Ich aber war betäubt von unbeschreiblichen Gefühlen. Ob meine Mutter mir vielleicht einmal einen Stoß gegeben, weiß ich nicht; geschlagen aber war ich noch niemals worden.

In dem Augenblick, da er wieder ausholte, sprang die Thür auf, und mein Vater trat herein, das einzige Mal also in meinem ganzen Leben, daß ich ihn heftig gesehen. Allein, Vetter, da er es nun einmal war, so war er auch wie ein gereizter und verwundeter Löwe. – „Was geht hier vor?“ rief er mit einer Stimme, daß die Fenster klirrten. „Welcher Cannibale wagt mein Kind blutig zu schlagen?“ Und damit riß er mich ungestüm zu sich und beschaute mich mit vor Zorn funkelndem Blick. – „Mein Gemahl, mäßige Dich – der ungezogene Bube ist frecher gewesen, als zu dulden,“ stammelte meine Mutter – ich sehe sie noch; sie war leichenblaß geworden. – „Ja, ich sah mich dazu genöthigt, Herr Schwager,“ fiel ihr der Baron in’s Wort, der sich gleichfalls verfärbte. „Mein Ring mag ihn gestreift haben, es ist ja nur ein Tropfen, er hätte viel mehr verdient. Außer seinem Ungehorsam und Trotz hat er uns auch noch angelogen und gesagt –“

„Was wahr ist!“ unterbrach ihn der Vater wieder, mit unverminderter Heftigkeit, mit der gleichen donnernden Stimme, und trat hart auf ihn zu. „Mein Kind lügt nicht, aber Ihr selber loget, Ihr! – Als ich hörte, daß Ihr wieder hier, bin ich dem Felix nachgegangen; ich dachte mir so was! Ich habe dort vor der Thür jedes Wort gehört und den Schlag vernommen, der meines Kindes Blut vergossen. Ich habe ihn gelobt, ich habe ihn hinein geschickt – zu Euch und Euresgleichen gewiß nicht! – Ich habe ihm versprochen, daß er mit mir reiten soll, und – Donner und Teufel! – ich möchte den Frechen kennen lernen, der sich in Hohensee’s Hause gegen Hohensee’s Willen zu opponiren wagt! – Komm’ mit, Junge,“ wandle er sich an mich; „mache Dir nichts daraus. Du hast Deinen Vater für Dich, und er wird Dir zu Deinem Recht helfen.“ Und damit führte er mich hinaus, in sein Zimmer hinüber, wusch mir selber die Wange ab, ließ mir mein Butterbrod geben, das mir auf all die Alteration vortrefflich schmeckte, ritt mit mir zu Felde – und es war von dem Geschehenen nicht mehr die Rede.

Ebenso ging es auch Abends, als wir nach Hause zurückkehrten. Ich war todtmüde und durfte zu Herrn Dollenius – das war mein Lehrer – hinauf, um dort alsbald zu essen und in’s Bett zu gehen. Ich schlief auch gleich ein, und das Erste, dessen ich mir wieder bewußt ward, war, daß mein Lehrer mich am folgenden Morgen um vier Uhr weckte, mich rasch aus dem Bett und in die Kleider trieb. Halb wachend frühstückte ich mit ihm, und dann ging es hinab vor die Thür, wo ein bespannter Wagen hielt und mein Vater stand. Er reichte dem Dollenius die Hand, bückte sich dann zu mir, gab mir – Wunder über Wunder! – einen warmen Kuß und sagte: „Sei verträglich und gehorsam, Junge. Gott behüte Dich! Und nun fort!“ – Und ich saß auf dem Wagen, und es ging fort, ich noch immer halb im Schlafe, oder war’s nur betäubt von all dem rasch folgenden Ungewöhnlichen und Unverständlichen ?

Wir fuhren zu meinem Schwager Büren, der, seit dem Frühling mit meiner Schwester Hedwig verheirathet, auf Karlshof wohnte. Er war ein Westphale von Geburt, der das Gut erst vor Kurzem von dem letzten Besitzer ererbt hatte, ein wackerer, gescheidter und jovialer Mann, eng befreundet mit dem Onkel Hans Peter und meinem Vater und gegen Wunsch und Willen der Mutter nun der Mann ihrer Tochter. Denn Hedwig, will ich nur gleich sagen, war ein wenig lebhafter und willenskräftiger als Schwester Marie, hatte den Büren absolut haben wollen und dazu die Zustimmung und Entscheidung des Vaters erhalten: „na, er ist ein Cavalier und Ehrenmann, das Mädchen mag ihn – also ja.“ – Und in der That, Vetter, es wurde eine der glücklichsten und zufriedensten Ehen im Lande. – Kurz, zu denen fuhren wir, und bei denen sollte ich für’s Erste bleiben, bis ich in zwei, drei Jahren Soldat würde.

Es ging mir gut in Karlshof. Das junge Paar war lustig, heiter und voll Liebe für einander so gut wie für mich und alle Welt. Schwach waren sie gegen mich nicht: die Hedwig kanzelte mich im Gegentheil zuweilen ab, daß es eine Art hatte, und der Schwager machte mir gelegentlich, wenn ich’s gar zu arg getrieben, recht tüchtig den Marsch. Allein aus dem Allen blickte die Liebe heraus, und somit war auch Alles gut und ich ein glückseliger kleiner Kerl, dem’s noch nie im Leben so wohl geworden, und der sich – leider, Vetter! – mit keinem Herzschlage nach Hohensee zurücksehnte. Und wie denn das Glück ebensogut wie das Unglück nicht allein kommt, erging es mir auch in allen übrigen Lebens-Accidenzien über die Maßen wohl. Ich war gesund, ich gedieh an Leib, Seele und Geist.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_706.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)