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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Last nicht abnehmen könne, die ihm fast das Herz abdrücke; dann ward er wieder kleinlaut und jammerte ungestüm, daß er sterben müsse, lange vor der Zeit und in der Fülle der Kraft. Heftig und maßlos in Allem zerstörte er sich selbst, und wenn er sich auch den Anfang seines Uebels nach der Stunde berechnen konnte, wollte er sich doch nicht gestehen, daß es der Abend des ersten Octobersonntags gewesen, der ihn zu Boden geworfen.

Es war Sanct Martini, und nach Landessitte duftete die gebratene Gans im Ofen, die auch an dem abgewürdigten Festtage dieses Heiligen in keinem Hause fehlen durfte, aber den Kranken widerte der Geruch an und sich unruhig im Lehnstuhle herumwerfend rief er seine Tochter herbei. Sie kam nicht; statt ihrer aber steckte nach einiger Zeit Melcher, der Knecht, den Kopf zur Thüre herein: „Ich hab’ Dich schreien hören, Bauer,“ sagte er. „Was willst? Es ist wohl die Zeit, daß Du die Latwerg’ einnehmen mußt, die Dir der Bader vom Simmertshausen verschrieben hat? Ich will sie Dir eingeben!“

„Wo ist Mirl?“ fragte der Bauer, indem er die vom Knechte dargebotene Arznei hinunterwürgte. „Warum kommt sie nicht?“

„Wie magst so fragen, Bauer!“ entgegnete Melcher tückisch. „Wo wird sie sein, als wo sie alleweil ist! Sollst es wahrhaftig nicht leiden, Bauer, daß sie Deinem Wort so gerad’entgegen ist!“

Der Alte winkte ihm zu schweigen. „Sie läßt sich’s nit wehren, Melcher,“ sagte er, „und ich will’s lieber nicht wissen! Ist mir ganz lieb, daß Du gekommen bist, mit Dir kann ich reden, wie’s mir um Herz ist … ich mag das Mädel nicht fragen, und möcht’ doch gern wissen, wie es steht … droben bei den … nun, Du weißt schon, wen ich mein’ …“

„Es ist Alles beim Allen. Das Bübel, der jüngere Bruder von dem Adrian, hat Dich selbiges Mal schreien und zanken hören; da hat er horchen wollen, hat das Wärmloch aufgemacht, und so ist ihm der Schuß in’s Gesicht gegangen …“

Den Alten schüttelte es wie Fieberfrost. „In’s Gesicht?“ murmelte er. „Ist aber keine Gefahr dabei, Melcher? Nicht wahr, es geht ihm nicht an’s Leben?“

„Warum nicht gar! Das Gewehr war ja nur zum Spatzenschrecken mit Vogeldunst geladen! Das thut ihm nichts … aber die Augen freilich … die sind hin!“

„Die Augen? Alle zwei Augen? Wird doch das nicht sein!“ jammerte der Bauer. „Die Bader verstehn Alle nichts, ich seh’s an mir … wird mit dem Bübel auch so sein … wird wohl das Augenlicht wieder bekommen, meinst nicht, Melcher?“

„Sie haben den Doctor von Dachau kommen lassen, der giebt keine Hoffnung! … Geschieht dem Fratzen ganz recht! Warum ist er so neugierig!“

„Es wird etwa doch nit sein,“ ächzte der Bauer. „Es wird ihm doch wohl ein Aug’ bleiben … oder er wird wenigstens den Schein behalten … Meinst nit, Melcher ? Ach, es drückt mich wieder so am Herzen … und dazu der ewige Lärm und das Hin- und Herlaufen droben! Ich bin schon recht erschrocken darüber… weißt nit, was sie haben, die Ueberrheiner? “

„Als wenn Du das nit auch wissen thätst! Draußen im Hof ist Alles schon aufgepackt und angeschirrt – sie ziehn aus!“

„Sie ziehn aus … ja, ja, ich weiß es, sie ziehn aus!“ sagte der Bauer mit leuchtenden Augen, indem er sich vor Vergnügen die abgemagerten Hände rieb. Alle Theilnahme, jede Regung des Mitleids war wieder verschwunden und die alten Gedanken des Hasses in erneuter Stärke aufgewacht. „Sie ziehn aus … ich hab’ es doch erreicht, Melcher … das Ueberrheiner Gesindel ist aus dem Haus, und der Stürzerhof kommt wieder zusammen in Eine Hand … Hab’ es selber nicht gedacht, daß es so schnell gehn würde aber mein Sepp ist ein quanter Bursch, hat sich die reiche Wittib vom Walserschlag ausgesucht … mit dem Geld ist der halbe Hof gezahlt und wieder eingelöst worden!“

„Was hätt’ all das Geld genutzt!“ sagte Melcher roh. „Wär die Geschicht’ nit passirt mit dem Schuß, da wär’ noch Alles beim Alten, und Du hättest dem Ueberrheiner die Hälfte mit Gold aufwägen dürfen, er hätt’ sie Dir doch nicht wiedergegeben! Aber das hat ihm den Hof verleidet, daß er’s selber kaum hat erwarten können, bis er draußen ist. … Ja, ja, das Mittel ist gar nit zu verachten – so ein armseliger Schuß Pulver, der macht gar geschwind Frieden! Ich mein’, Du hast es nicht Ursach, Stürzerbauer, daß Du Dich über den Buben kränkst!“

„Ich thu’s auch nit mehr, Melcher,“ sagte der Alte hastig, „aber ich kann selber nit dafür … Manchmal da fällt mir der Bub’ ein, besonders Nachts, wenn mich das Herzdrücken nit schlafen läßt und wenn ich so lieg’ und schau in die pechschwarze, stockfinstere Nacht hinaus … Da kommt mir allemal der Gedanken, wie es sein müßt’, wenn’s alleweil so Nacht bleiben that’ und wie’s einem Blinden sein muß; … und da fällt mir das Bübel ein…. Aber er wird nit blind, Melcher! Du wirst es sehn, sie sagen’s nur, um mich zu schrecken, aber der Stürzer laßt sich nichts vormachen … der hat seine guten offenen Augen. … Ach Gott, daß ich so krank sein muß, Melcher, und so elend! Ich möcht’ es so gern sehn, mit meinen eigenen Augen sehn, wie der Ueberrheiner auszieht … und muß da in der Stuben und im Lehnstuhl liegen. … Ich mein’, wenn ich das sehen könnt’, der Stein, der mich so drückt, da drinnen, müßt’ auf einmal sein wie weggeblasen!“

„Das kannst wohl, Stürzerbauer,“ sagte Melcher, „ich führ’ Dich hinaus in die Küch’ .. . ein kleines halbblindes Fenster führt auf’s Fletz, von dort kannst die Stiegen und den Hof übersehn, ohne daß es Jemand merkt. …“

Der Bauer willigte mit leidenschaftlicher Gier in den Vorschlag und lehnte bald in der dunklen, rußgeschwärzten Küche an dem unbeachteten, leicht geöffneten Fensterchen. Er war eben zur rechten Zeit gekommen, denn im obern Stockwerk schien man sich zum Aufbruch zu bereiten; im Hofraume stand ein mit allerlei Hausrath beladener Wagen, an welchen ein Knecht eben die Pferde schirrte, während die Magd die widerstrebenden Kühe aus dem Stall zerrte, um sie fort zu treiben.

„Jetzt kommen sie,“ flüsterte Melcher, „ich höre die Stiege knarren. …“ Voran schritt der alte Pfälzerbauer, eine würdige Gestalt in langem Ueberrock und mit glatt herabhängendem langen Silberhaar, das ihm fast ein pastorenartiges Ansehn gab. Hinter ihm kam Adrian, der die verweinten Augen mit einem Tuche trocknete, und die schon längst trocken und welk gewordene Nelke Annemariens auf dem Hute trug. Ihm folgte diese selbst, den kranken, etwa sechsjährigen Knaben auf den Armen tragend, der ihr das leidende verbundene Köpfchen zärtlich an Hals und Schultern legte. Alle schwiegen, nur der Kleine schluchzte leise und vermehrte durch seine Thränen den Schmerz seiner verbrannten Augen.

Dem alten Stürzer auf seinem Lauerposten kam das Zittern in die Beine; er wollte fort und konnte es doch nicht, wenn er nicht Geräusch verursachen und dadurch seine Anwesenheit verrathen wollte. Unter der Hausthüre hielt der alle Pfälzer an, blickte um sich und rief feierlich: „Gott segne unsern Ausgang … wir sind in diesem Hause recht glücklich gewesen, meine Kinder; wir wollen es ihm nicht gedenken, daß es zuletzt so große Trübsal über uns gebracht hat, wir wollen nicht in Groll und Unfrieden von ihm scheiden! – Nehmen wir Abschied, Kinder … sieh nicht so finster drein, Adrian… . Und Du, mein armes Davidle … wenn es Dich gleich am schwersten getroffen hat … gebt mir auf der Thürschwell’ da noch einmal Eure Händ’ und versprecht mir, daß Ihr keinen Haß mitnehmen wollt! Es steht wohl geschrieben: Zahn um Zahn, Aug’ um Aug’ und Blut um Blut … aber das ist der alte Bund gewesen … wir wollen Christen sein, meine Kinder, und wollen verzeihen. …“

Adrian barg sein Leidensgesicht an der Brust des Vaters, der kleine David aber streckte ihm das Händchen zum Gelöbniß hin … mit ausbrechenden Thränen ergriff es Annemarie und zog es an den Mund. Dann traten sie über die Schwelle; der Stürzer aber hielt sich fest an den Knecht und wankte in die Stube zurück. „Führ’ mich fort, Melcher,“ flüsterte er, „mir wird völlig nit gut, ich glaub’, das Wasser drückt mir das Herz ab.“…

Im Hofe war indessen Alles zur Abfahrt bereit; Adrian’s Vater saß bereits auf dem Wagen und hatte den Knaben zu sich auf den Schooß genommen; nur Adrian selber zögerte noch aufzusteigen und stand mit Annemarie am großen Flügel des Hofthores in halblaut vertraulichem Gespräch. So heimlich sie aber miteinander kosten, ging doch dem Lauscher kein Wörtchen verloren, der in der Ecke des Thors, von dem Flügel gedeckt, kauerte. „Es muß sein, Ameile,“ sagte Adrian endlich, „wir müssen auseinander. Mir geht’s wirklich wie in dem Lied, das ich Dir zuerst gesungen hab’ …“

„Behüt’ Dich Gott, Adrian,“ sagte das Mädchen, indem sie ihm entschlossen die Hand reichte … „es ist ja nicht auf lang!

Es bleibt dabei – wie’s Abend wird, find’ ich Dich droben am Schauerkreuz. …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_643.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)