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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

bilden. Jedes Blatt ist überaus kunstreich aus kleinen rechteckigen Stückchen der Oberhaut des Zweiges in der Weise zusammengesetzt, daß sie mit den Seiten aneinander stoßen. Unter diesem Schutzdache liegt die Raupe verborgen. Von Zeit zu Zeit aber streckt sie den Kopf heraus, zieht mit den scharfen Kiefern ein Stück der Epidermis ab, geht wieder zurück und heftet das neugewonnene Baumaterial mit Fäden an den Rand des noch unfertigen Blattes.

Hat sie 3–4 Täfelchen in dieser Weise befestigt, so geht sie an das andere Blatt, um es ebensoweit zu fördern, sorgt aber stets dafür, daß bei dem Hervorgehen aus der Hülse der hinterste Theil des Körpers zu Hause bleibe. Die ganze Hülse erhält endlich die Gestalt einer dreieckig zusammengefalteten Spitzdüte. Ist aber der Bau beendet, dann schließt die Raupe den Spalt und die obere Mündung, indem sie die Ränder der Blätter durch Seidenfäden zusammenzieht, und nun gewinnt sie Zeit, an ihrer Metamorphose zu arbeiten. Will der Leser einmal dem Fortschreiten dieser interessanten Arbeit zusehen, so muß er gewandt genug sein, bis zu den äußersten Zweigen zu klettern, und zudem ist die Hülse schwer zu entdecken, da sie nur die Länge eines halben Zolls erreicht.

Nicht geringere Kunstfertigkeit zeigen mehrere auf der Eiche lebende Raupen aus der Gruppe der Blattwickler. Wenn die Blätter im Frühjahre ihre größte Ausdehnung erreicht haben, dann findet man deren viele, welche zusammengerollt sind. Diese Blattrollen waren im vergangenen Frühjahre in auffallender Menge vorhanden, sodaß einzelne Bäume dadurch ein ganz fremdartiges Ansehen gewannen. Die Form der Hülsenarbeit ist nicht gleich, indeß deutet diese Verschiedenheit nicht immer auf verschiedene Raupenarten, sondern ist bisweilen durch Zufälligkeiten in der Blattform bedingt. Bald ist das Blatt von der Spitze her in 2–3 Windungen nach unten bis zur Mitte der Fläche gerollt, und gleicht dann der unter dem Namen der Weinhippen bekannten Leckerei; bald ist das Blatt nach oben, bald von der Seite her bis zur Mittelrippe, bald von einem Rande nach dem andern aufgerollt, bald bilden zwei oder mehr Blätter eine einzige Rolle.

Die Mechanik der Blattrolle ist einfach genug, um sie zu verstehen. Zuerst heftet die Raupe an einem beliebigen Lappen des Blattes – vorzüglich gern wählt sie einen solchen, der schon von Natur gekrümmt ist – einen Seidenfaden an, befestigt denselben gegen die Mitte des Blattes und verstärkt diese Schnur, indem sie mit großer Geschwindigkeit mit dem Kopfe 2–300 Mal von dem Rande nach der Mitte hinschlägt. Dabei verfährt sie so, daß die Fäden zwei sich kreuzende Schichten bilden und dadurch um so größere Festigkeit erhalten. Dergleichen Schnüre legt sie bei der ersten Krümmung etwa drei an. Indern die Bänder durch das Austrocknen sich verkürzen, wird die beabsichtigte Krümmung des Blattes wesentlich verstärkt. Ist die erste Windung der Hülse vollendet, so schlüpft die Raupe hinein und arbeitet bei der Anlage neuer Bänder von den beiden Oeffnungen her oder unter dem Rande hervor. Nun geht die Raupe an die zweite Reihe von Bändern. Sie heftet dieselben auf dem Rücken der ersten Windung an und führt sie wieder bis zur Blattfläche. Dadurch rollt sich das Blatt noch weiter ein, und die ersten Bänder werden schlaff.

In dieser Weise arbeitet sie fort, bis die Rolle, wenn sie bis zur größten Breite des Blattes vorgerückt ist, von 10–12 Schnüren gehalten wird. Die so bereitete Hülse ist die nunmehrige Wohnung der Raupe, und die Wände derselben, die ihr Schutz gegen Unwetter und Feinde bieten, dienen ihr zugleich, von innen heraus, zur Nahrung. Ist die Rolle bis zur letzten Windung aufgezehrt, dann fertigt die Raupe eine neue an, doch geht sie bei dieser viel weniger sorgfältig zu Werke und bedient sich zum Anheften nur einfacher, sich kreuzender Fäden. In dieser neuen Hülle übersteht sie gewöhnlich auch ihre Verwandlung.

Eine andere, jedoch zu derselben Gruppe gehörige Raupe arbeitet in etwas verschiedener Weise. Sie wickelt einen einzelnen Lappen zu einer Düte, verstopft die Oeffnung mittelst eines anderen Lappens und verbindet denselben durch die vorhin beschriebenen Bänder mit der Hülse. Mit Uebergehung unzählig vieler anderer nicht minder interessanter Formen von Hülsen und Gespinnsten, sowie der bizarrsten Thiergestalten, werfen wir nur noch einen kurzen Blick auf die Gallen. Es ist bekannt, daß die Gallwespenarten die Oberhaut gewisser Pflanzen mittelst eines Legestachels durchbohren und ihre Eier in die Oeffnung schieben. Die meisten derselben sind auf die Eiche angewiesen. Der durch Verwundung des Zellgewebes erzeugte Reiz bewirkt einen verstärkten Saftzufluß und veranlaßt dadurch die Bildung jener Auswüchse, welche wir Gallen nennen, und die eigentlich Nichts sind, als die Kinderstuben jener Insecten. Zahlreich, wie die Arten der Gallinsecten, sind die auf der Eiche gefundenen Gallenformen. Sie sitzen bald auf der oberen, bald auf der unteren Seite der Blätter, bald mitten im Zellgewebe, an den Zweigen, an den Blattstielen, an den Knospen, an den Blüthenkätzchen, an den Napfhüllen und anderen Theilen des Baumes. Wie in Färbung und Consistenz, sind sie auch in Größe und Bildung unter sich verschieden. Bald gleichen sie glatten oder warzigen Kugeln, wie die für technische Zwecke aus der Levante eingeführten Galläpfel, bald sind sie glocken-, pauken- oder nierenförmig. Zuweilen stehen sie in größerer Zahl an einem langen Stiele, und dann glaubt man eine Johannisbeertraube zu sehen. Allerliebst sind einige Gallbildungen, welche an jene Emailknöpfe erinnern, wie das Landvolk sie sonst am Hemde zu tragen pflegte, und an kleinere, von den Posamentieren aus Seide gefertigte Knopfformen. Allezeit aber schließen sie die Wiege der Larve eines Gallinsects ein, welche, wenn ihre Zeit und Stunde gekommen ist, die Wand durchbricht, um sich in der Erde zu verpuppen.

So habe ich den Leser kaum von etwas Anderem unterhalten, als von Ungeziefer, wie man die niederen Thierformen zu bezeichnen pflegt, und dennoch flößen sie dem aufmerksamen Beobachter Interesse ein und haben uns so manches bunte, bewegte Lebensbild sehen lassen.

Zwar ist es eben kein erfreulicher Anblick, wenn mitten in der Fülle des Frühlings die Bäume kahl und grau zum Himmel empor starren. Aber in der That ist eine allgemeine, dem Pflanzenwuchse verderbliche Entlaubung eine seltener eintretende Calamität, welcher, mit Ausschluß der Nadelhölzer, die Waldbäume, und die Eiche zumal, eine fast unüberwindliche Lebenskraft entgegensetzen. Dazu werden die Raupen, wie wir gesehen haben, durch ihre dazu bestellten Wächter, Laufkäfer, Schlupfwespen, Raubwespen, Raubfliegen, Raupenfliegen, Wanzen und Spinnen, gebührend in Schranken gehalten. Wohl scheinen sich dieselben, wie träge, verschlafene Wächter, dann und wann um ihr Amt wenig zu kümmern; aber wenn jene ungebetenen Gäste auf dem höchsten Punkte der Machtentwickelung angekommen sind, dann wachen sie auf und rücken, mit Lanze und Schwert bewaffnet, in das Feld, und in der Regel ist das Gleichgewicht bald wieder hergestellt. Da diese Zuchtmeister der Raupen, Larven und anderen „Ungeziefers“ meist weit kleiner sind, als die ihrer Ueberwachung Anvertrauten, so entziehen sie sich leicht, wie alle Vigilanten thun, profanen Blicken. Um so interessanter aber ist es, sie kennen zu lernen und ihren geheimen Gängen nachzuspüren, und ihr Thun erscheint um so harmloser, als die Quelle desselben allein in mütterlicher Fürsorge und das Ziel in der Brutpflege gesucht werden muß.

Und über das Alles – wie würde es wohl aussehen, wenn der Fluch, der schon tausendfach über die Verwüster ausgesprochen worden, in Erfüllung ginge? Ist nicht an das niedere Thierleben das höhere in seinen anmuthigeren Formen gebunden, und würden wir nicht, wenn er Erhörung fände, alle unsere liederreichen Vögel aus Wäldern und Gärten scheiden sehen müssen? Würden wir uns wohl dazu verstehen können, unsere Nachtigallen, Grasmücken, Amseln, Drosseln und viele andere weniger melodienreiche Vögel, deren Stimmen den großen Chor verstärken und die uns durch ihr munteres, bewegliches Wesen erfreuen, unserem Eigennutze zu opfern? Selbst die Eiche gewann, trotz ihrer eigenen Herrlichkeit, in den Knabenjahren erst dann meine volle Theilnahme, als ich in ihr eine große Thierherberge kennen lernte. Sie wurde mir später eine freudenreiche Lehrstube, in die ich mich, so oft es nur zu ermöglichen war, von den harten Schulbänken flüchtete. Und noch heute finde ich in dem pulsirenden Leben des Eichbaumes manchen frischen Gedanken, der mich von der Abmattung des Alltagslebens heilt. Am ausgiebigsten an Material zur Beobachtung sind die großen Bäume, wie sie am Rande des Eichenwaldes zu stehen pflegen. Der gemeine Mann nennt sie wegen ihrer prangenden Schönheit Bräute. Wer sie verstehen lernt, gewinnt sie lieb wie eine Braut.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_536.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)