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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

in welchem der Alte seinen noch immer feststehenden Entschluß erfahren würde. Was ihn aber neuerdings noch mehr zur Ausführung desselben drängen wollte, war ein eigenthümliches Verhältniß, das sich zwischen ihm und Carry herauszubilden begann. Der tägliche Ritt nach der Farm war eine von ihm übernommene Verpflichtung, und er hatte ihn deshalb nur unterlassen, wenn der Spätherbst zu arg wetterte. Von dem Tage an, der seine Begegnung mit Jessy herbeigeführt, hatte indessen Carry’s Wesen eine eigenthümliche Aenderung erlitten. Ihr Muthwille und ihr sicheres Auftreten waren meist einer Art Zurückhaltung gewichen, bisweilen sogar einer seltsamen Weiche; ihre ganze Art sich zu geben hatte etwas mädchenhaft Schüchternes, durch welches doch zuweilen der alte kecke Geist sich Bahn brach, dann aber stets sein Opfer in einem lebendigen Erröthen bringen mußte, angenommen, so daß Hugo zuerst mit einer leisen Ueberraschung diese Wandelung wahrgenommen, dann aber selbst nicht mehr den bei seinen frühern Besuchen angeschlagenen leichten Ton hatte aufrecht erhalten können. Sein Unterricht mit dem Knaben war völlig ausgefallen, da der Arzt jede geistige Anstrengung desselben untersagt, und so war der Deutsche immer stundenlang mit dem Mädchen allein gewesen, das zwar seine Unterweisung im Pianospiel ruhig hingenommen, diese aber doch sichtlich nur als Nebensache betrachtet und oft mitten in der Ausführung eines Stücks abgebrochen hatte, um ihn mit einer plötzlichen Frage über Einzelnheiten des deutschen Lebens oder einer Gegend, welche Winter mit seiner älteren Tochter bereist, zum Sprechen zu bringen. Dann hatte sie sich zurücklehnen und ihn bewegungslos anblicken können, als beobachte sie mehr die Aenderung im Ausdrucke seines Gesichts, als sie seine Worte vernehme. Und wenn dann Hugo vor dem stillen Anschauen dieses prächtigen Auges, das sich wie unbewußt in das seine versenken zu wollen schien, einer leichten Befangenheit sich nicht hatte entschlagen können und er abbrechend sie gefragt, was ihr an allen solchen Mittheilungen gelegen sein könne, da war sie wohl hocherröthend, wie aus einem halben Traume, aufgefahren und hatte in einer Verlegenheit, die ihr nicht erlaubte, ihre Worte abzuwägen, gesagt: „O, ich höre Ihr Reden doch so viel lieber, als mein dummes Spiel!“ – Schnell genug hatte zwar Hugo bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten die rechte gegenseitige Haltung wieder herbeizuführen gewußt; aber auf dem Heimwege hatte er sich mehr als einmal gefragt, ob er sich selbst über den Herzenszustand des liebenswürdigen Mädchens, das nur auf ihn nicht ihre volle Anziehungskraft auszuüben vermöge, täuschen dürfe, und wohin für sie eine Fortdauer dieser Zusammenkünfte führen solle. Stoff zu noch weiterem Denken aber hatte er gefunden, als er, nachdem er zwei Tage seine Besuche ausgesetzt, bei seiner Ankunft auf der Farm den Principal, eben fertig zum Abfahren, getroffen, der ihm mit seinem eigenthümlichen Lächeln gesagt: „Carry ist ganz unglücklich über Ihr Außenbleiben, Sir! Sie arbeiten sich tüchtig im Geschäfte ein, wie ich höre; indessen dürfen Sie sich nicht geniren, sich hier gleichfalls zu Hause zu machen; es ist nicht unmöglich, daß ich Sie einmal werde bitten müssen, mich eine Zeit lang in meiner Häuslichkeit eben so zu vertreten, wie ich dies von Ihnen im Geschäft hoffe!“ Und mit einem launigen Kopfnicken, als glaube er völlig genug gesagt zu haben, war er davongefahren. Hugo hatte sich fast gefürchtet, sich die Worte zu deuten; wenn er sich aber dachte, daß der Mann, dem er durch seine Abenteuer mit Jessy schon vor seiner Ankunft kein Unbekannter gewesen war, den Plan gefaßt haben könne, sich in ihm ein dankbares, verschwiegenes Werkzeug für seine Geschäfte zu erziehen und ihn endlich ganz an sich zu fesseln, wie es bereits so manche seiner bisherigen Aeußerungen hatten ahnen lassen – so erfaßte es ihn bei der Vorstellung des möglichen Sinnes von Winter’s Worten fast wie Angst, und er nahm sich von Neuem vor, diesen Verhältnissen ein rasches Ende zu machen, selbst auf die Gefahr hin, es ohne jede Rechtfertigung thun zu müssen.

In der zweiten Woche aber war die gegen die Finanzbehörden der Stadt in Anregung gebrachte Untersuchung allgemeines Gespräch geworden; in allen Trinklocalen und Privatgesellschaften, in ausgeschriebenen Bürgerversammlungen und wo Drei zusammen, auf der Straße standen, hatte es keinen andern Unterhaltungsstoff als die nirgends mehr geheim gehaltenen Beschuldigungen gegeben; hitzige Debatten für und wider fanden überall statt, die Zeitungen begannen die Angelegenheit je nach ihrer Parteifarbe aufzunehmen, und eine Spannung über den endlichen Ausgang der Bewegung, an der Hugo wider Willen einen regen Antheil zu nehmen begann, bemächtigte sich des Deutschen, daß es kaum Henderson’s heimlich ausgedrückter Genugthuung und seines: „Nur abwarten, es kommt Alles, wie es soll!“ und Winter’s jetzt deutlich hervortretender Unruhe bedurft hätte, um ihn für den Augenblick auf seinem Platze festzuhalten. Bald schien Graham’s Name der Hauptpunkt zu werden, um welchen sich die öffentlichen Verhandlungen drehten; jemehr aber der Comptroller auf der einen Seite verurtheilt wurde, je kräftiger nahm sich eine andere Partei seiner an, und Winter schien ebenfalls sich wieder dicht an die Seite des Schwiegersohns zu stellen – Hugo traf den Letzteren sogar einmal mit Jenem zusammen auf dessen Farm, so daß sich an einem neuen völligen Einverständniß Beider nicht mehr zweifeln ließ. Henderson aber zog bei den Zeichen der erneuten gegenseitigen Vertraulichkeit die Augenbrauen dicht aneinander und brummte: „Das ist die Folge! Er schöbe ihn gern so weit von sich, als er könnte, und wäre ein ehrlicher Mann, aber er fürchtet ihn und muß schlau sein – nun, je härter es jetzt drückt, desto eindringlicher die Lehre; dem Comptroller aber helfen doch alle seine Kumpane nicht mehr!“ Und Hugo hatte mehr als je an Jessy, an die Stimmung, in welcher sie sich während dieser Krisis befinden mußte, sowie an die Lage, in welche sie gerathen werde, wenn Graham wirklich des Betruges überführt würde, denken müssen. Es war ihm, als dürfe er schon ihrethalber vor einer bestimmten Entscheidung nicht gehen.

So waren drei Wochen vergangen. Von dem Tischler hatte Hugo während der ganzen Zeit kein Wort vernommen, und er war böse auf ihn. Früher, wo Mangold seiner bedurft, meinte er, habe dieser nichts ohne seinen Rath thun können; jetzt habe er sich schon am ersten Tage den Feinden des Mannes angeschlossen, bei welchem er den Freund im Geschäft wußte, ohne diesem nur einmal Nachricht von sich zu geben, und so wenig sich auch Hugo dieses Verfahren des Schulcameraden mit dessen früherer Anhänglichkeit zusammenreimen konnte, so hatte er sich doch vorgenommen, den undankbaren Menschen bei einem möglichen Begegnen so kalt zu behandeln, als er es verdiene.

Es war an einem kalten, aber klaren Decembertage, als Hugo nach eingenommenem Mittagsessen wieder nach dem Geschäftslocale zurückschritt. Es war unter den Tischgästen die Sage verbreitet gewesen, daß dem Staatsanwalt von einem Ausschusse der Bürgerschaft eine mit einer Menge von Beweisen versehene Anklage auf Schwindel, Betrug und Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen die Häupter der Stadt übergeben worden sei, daß die Sache gar nicht ohne vorläufige Verhaftung der Beschuldigten abgehen könne, daß aber Graham zu dem gethanen Schritte lache, ihn für eine wahnsinnige Maßregel seiner politischen Gegenpartei erkläre, die noch mit ihrem Geschrei den Stadtcredit völlig ruinieren werde, und für den morgenden Abend Einladungen zu einer großen Fete in seinem Hause erlassen habe. Von andern Seiten aber war hinzugesetzt worden, daß jedenfalls die Stadtpapiere eine bedeutende Entwerthung erleiden würden, da die Untersuchungspartei darauf dringe, keinen Cent Zinsen zu zahlen, so lange nicht der Betrag der unrechtmäßig ausgegebenen Obligationen ermittelt worden; daß indessen die große Geschäftswelt noch sehr mit sich im Zweifel sei, ob sie nicht durch ihr gesammtes Gewicht der vorauszusehenden Calamität sich entgegenstellen werde.

Den Kopf noch voll des Gehörten war es dem Deutschen völlig entgangen, daß sich zwei Häuser von dem Geschäftslocale der Tischler aufgestellt halte und sich ihm vergebens bemerkbar zu machen suchte, und erst als Jener mit einem: „Willst Du mich nicht sehen, Hugo?“ seinen Arm faßte, fuhr er aus seinen Gedanken auf.

„Wenn es so wäre, hättest Du wohl kaum etwas Anderes verdient!“ erwiderte der Angeredete langsam, aber Mangold sah ihn plötzlich mit einem so erschrockenem Gesichte an, daß er für den Moment seinen Unwillen schwinden fühlte. „Es sind drei Wochen, Heinrich, seit wir hier ankamen und ich nichts von Dir gesehen habe, trotzdem ich nach Dir gegangen war.“

„Herrgott, was hätt’ ich denn thun sollen?“ fuhr der Tischler auf. „Fünf Mal habe ich mich Abends hier herumgetrieben in der Hoffnung, Dich zu treffen, bis ich endlich daran verzweifelte. Ich hatte Dir so Vielerlei zu erzählen und ich konnte ja doch am Tage nicht von der Arbeit weg – heute aber mußte’s sein und hätt’ ich mich selber in den Fuchsbau, in dem Du steckst, hinein wagen sollen! – ’s ist ein feiner Kerl, der Mr. Winter,“ lachte

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