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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Haben doch selbst die gegenwärtig von dem Druck der Regierungslasten befreiten italienischen Fürsten, z. B. die Herzogin von Parma, die dargebotene Wohlthat nicht verschmäht. Wir wissen nicht gewiß, ob sie sich gerade in „Pension“ gethan hat, aber sie wohnte wenigstens einen ganzen Winter hindurch in dem am Züricher See gelegenen Hotel Baur. Ein Professor des dortigen Polytechnikums erzählte uns bei unserer letzten Anwesenheit in Zürich folgende hübsche Anekdote. Der Wirth Baur, welcher durch allerlei kostspielige Bauunternehmungen und den Ankauf eines neuen Grundstückes oben am See vorübergehend in Geldverlegenheit gerathen war, sah sich durch den langen Aufenthalt der herzoglichen Familie und ihrer Hofstaaten aus seiner mißlichen Lage erlöst und mit den frohesten Hoffnungen auf die Zukunft erfüllt. „Wenn das so weiter geht, wenn noch mehr Herzöge und Fürsten herkommen,“ sagte der gute Mann in der Freude seines Herzens, „bei Gott, dann wird Venedig in ein paar Monaten frei!“ (Venedig hieß nämlich auch das erwähnte kleine Grundstück am See.)

Ueber den Bodensee aus Süddeutschland, vornehmlich aus Schwaben, kommen die Sommerbewohner des Cantons Appenzell. Hier, wo noch nicht die höhere Pension sich eingebürgert hat, ist der geeignete Aufenthalt für einfache Leute, die drei Kreuzer für den Schoppen Ulmer Bier und sechs Kreuzer für das aus Weizengebäck, Butter und Käse bestehende „Vieruhrbrod“ zu zahlen gewohnt sind. Im Canton Appenzell wird der Mensch noch wöchentlich für zwanzig Franken beherbergt und beköstigt. Nur wenn ihn nach Molken gelüstet, muß er, als Curgast, täglich eine Kleinigkeit zulegen. In diesem glücklichen Landstriche versammeln sich die Freunde der kräftigen reinen Milch, der Erdbeeren und Forellen. Der Malzextrakt wird die Gegenden südlich vom Bodensee nicht um ihren altbewährten Ruf bringen, schon oft durch ihre Molken und die köstliche Bergluft der mörderischen Schwindsucht Stillstand geboten zu haben.

Vom Bodensee aus verbreitet sich der Schwarm der Pensionäre über die östliche und westliche Schweiz, während die eigentlichen hastigeren Touristen die Route über Basel mit ihren Eil- und Nachtzügen den badischen und mitteldeutschen Eisenbahnen vorziehen. Die Dampfschifffahrt quer über den See für einen Gulden auf dem ersten Platze leitet viel gemüthlicher die vierwöchentliche billige Pension ein. An allen See’n, in allen Thälern trifft der Reisende auf dergleichen gastliche Stätten, auch die Wirthe, wenn ihre Hotels nicht an den besuchtesten Knotenpunkten des Verkehrs liegen, bequemen sich zur Aufnahme von Pensionären, ja selbst die Privatleute suchen, als verständige Industrielle, in der kurzen Sommerzeit ihre Einnahmen auf dieselbe Weise zu verbessern. Die besten Zimmer des Hauses werden den Gästen eingeräumt; der Wirth und seine Familie behelfen sich mit den dürftigsten Kammern des Hauses. Die kleinen Städtchen am Ufer des Vierwaldstätter und Züricher Sees wimmeln von Pensionären; sie ziehen sich bis in die stillen Thalschluchten hinein, je nachdem ihr Naturell von geselliger oder beschaulicher Beschaffenheit ist. Von dem Comfort der großen Wirthschaften von Interlaken hat man hier keine Ahnung, man nimmt noch nicht jene schwächliche Rücksicht auf den Appetit der Gäste, zweimal täglich Mittagsessen zu kochen und ihnen die Wahl zwischen dem Diner um ein oder um vier Uhr zu überlassen; die Lebensarten sind noch durchaus einfach und entsprechen dem billigeren Preise. Morgens wird mit einer reichlichen Mischung von „Wegelugger“ – Botaniker mögen entscheiden, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen diese Pflanze mit unserem künstlichen Cichorienpräparat steht – Kaffee gekocht, bei dem kein Mangel an Milch, Zucker, frischer Butter und braunen Semmeln herrscht. Sollten in dem üblichen Honiggefäß ungewöhnlich viele Fliegen ihre Tod durch Unvorsichtigkeit gefunden haben, so darf man den Dienstboten und Rettungsanstalten nicht die Schuld beimessen. Der Honig ist überaus klebrig und die Fliege naschhaft. Der Pensionär darf seine Kaffeestunde beliebig zwischen sieben und neun Uhr Morgens wählen; später bleibt er sich selber überlassen. Befindet sich ein See oder ein Bach in der Nähe, so kann er seine Angel auswerfen; ist kein Wasser da, so wälzt er sich vielleicht den Vormittag über im Grase und badet sich im Sonnenschein und der stärkenden Luft der Höhen; hat er seine Kinder mitgebracht, so sammelt er mit ihnen Erd- und Blaubeeren, pflückt Blumen und fängt Schmetterlinge; fehlt es ihm nicht an Bildung und Kenntnissen, so liest er, botanisirt oder sucht allerlei Mineralien, läßt sich von unbeschäftigten Jägern anlügen oder macht endlich einen ästhetischen Spaziergang mit Reimübungen. Um ein Uhr findet regelmäßig die Hauptfütterung statt. Bei einem Pensionsbetrage von drei Franken, dem Minimum, täglich besteht sie nur in einer ungekünstelten Suppe, einem derben Gemüse und Braten und einem handfesten Pudding am Sonntage. Wo Fische reichlich vorhanden sind, fehlen sie bei keiner Mittagstafel. Als Dessert sind Haselnüsse und eine Sorte kleinen Confectes beliebt, das sich seiner angestammten Dürre wegen mehrere Jahrhunderte hindurch aufbewahren läßt und seinem Recepte nach unfehlbar von den Conditoren der alten Helvetier abstammt. Begehrt der Pensionär Wein oder Bier, so bezahlt er es natürlich aus seiner Tasche, man verübelt ihm jedoch nur an den wenigsten Orten, wenn er den Durst in dem auf dem Tisch stehenden Quellwasser löscht. Von ein bis sieben oder acht Uhr Abends ist der Pensionär entlassen. Er zieht sich in seine Gemächer zurück, um zu schlafen, er spielt im Schatten der Veranda mit den Collegen Boston oder Whist, er raucht auf dem Balcon Angesichts des Hochgebirges seine Cigarre und liest den neuangekommenen „Bund“ oder das in den Pensionen die Runde machende Exemplar des „Postheiri“, oder er steigt auf die nahen Berge. Das Läuten der Glocke versammelt Abends wieder die ganze Hausgenossenschaft um den Theetisch. Sind Patienten unter den Pensionären, so erhalten sie eine die Nerven beschwichtigende warme Suppe. Kalte Küche, Käse und Früchte, gewöhnlich Erd- und Himbeeren, stillen den Hunger der Uebrigen. Nach Tisch beobachtet man das etwaige Alpenglühen, oder man begiebt sich nach dem Posthause, um den letzten Wagen abzuwarten und die neuen Ankömmlinge in Augenschein zu nehmen, man macht landwirtschaftliche Studien an dem Vieh, wenn es nach Hause kommt, oder man fährt auf dem Wasser, falls die Pension nahe an einem See liegt. Es giebt geduldige Leute, die ihre Sommerferien damit ausfüllen, am Ufer auf den Balken zu sitzen, die ankommenden Dampfer zu erwarten und ihnen so lange als möglich nachzublicken, wenn sie abgefahren sind.

Regnen Pensionen ein, so pflegt ihr Zustand fürchterlich zu werden. Regenwetter ist unter diesen Umständen das größte Uebel. Der Mensch kann vor Langerweile auf eben so arge Teufeleien verfallen, wie durch den Antrieb seiner Laster; der aus den großen Mittelpunkten der Civilisation kommende Pensionsmensch natürlicher Weise am leichtesten. Nicht allein im Verhältniß der Staaten untereinander ist die Aufrechthaltung des Friedens eine bedenkliche und schwierige Sache; auch in den meisten Pensionen schwebt die Gesellschaft gewöhnlich am Rande der Kriegserklärung. Je größer die Pension, je zusammengesetzter in ihren einzelnen Bestandtheilen, je gedrängter in ihren architektonischen Einrichtungen: desto straffer wird ihre Kriegsbereitschaft sein. Wer seinen Sommerfrieden sichern will, thut daher wohl, von vornherein alle umfangreichen, geschäftsmäßig verwalteten Phalansterien zu meiden und sich bei einfachen Bürgern oder Bauern einzumiethen. Wir haben erlebt, daß über ein Fenster, welches eine der Parteien unter Anführung eines Rechtsanwaltes geöffnet, eine andere, als deren Wortführer ein Arzt aus Berlin galt, verschlossen haben wollte, während der Mittagsmahlzeit eine Fehde ausbrach, welche einen ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Interlaken und der benachbarten Pensionen vor den Fenstern des Speisesaales versammelte, und mit gegenseitigem Angebote von Maulschellen endigte. Aus eingeregneten Pensionen können nun gar Drachennester, Mördergruben der socialen Revolution, Schlachthäuser der Unschuld werden. Die vorräthigen Anekdoten sind bald erzählt, der Herr mit den Kartenkunststücken und dem Becherspiel ist rasch abgenutzt, aber der Himmel will sich noch immer nicht aufklären. Jetzt wird der alte ägyptische Reisende aufgezogen, oder der polnische Graf muß in gebrochenem Deutsch von seinen Gütern erzählen, Abends hört man andächtig dem Virtuosen auf der halbbezogenen Guitarre zu; es regnet unermüdlich weiter. Einige längst angebahnte Liebschaften sind bereits in vollem Gange, die Furien der Eifersucht erwachen, eine heirathslustige alte Jungfer schnaubt Rache, Väter, Mütter sind beleidigt, eine Tante mit zwei Nichten im Roccocogeschmack erachtet das Decorum für geschändet; wenn es am nächsten Tage noch weiter fortregnet, dürfen wir für die gänzliche Auflösung der Pension zittern. Am glücklichsten sind diejenigen Versammlungen, welche, wie jeder ordentliche Bienenstock, unter der Obhut einer Königin stehen. In den meisten Fällen pflegt dieselbe eine junge Dame von ausgezeichnetem Aeußeren, aber nicht unbedenklichen Antecedentien zu sein, die nach dem Fehlschlagen aller ihrer Hoffnungen im

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_511.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)