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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

den alten Sagen der Insel diese selbst geschaffen, bewohnt und bevölkert haben.

Wir klimmen die steinernen Zickzackleitern in den Winkeln der Sackgassen hinauf und gelangen in den neueren und schöneren Stadttheil auf dem schmalen Plateau des Berges. Dort steht ein dunkles, ehrwürdiges Gebäude mit einem Garten davor, in welchem Pinien und Lorbeer wachsen, mit einem Rundbogen-Wetterdach über der röthlichen Eingangsthür, mit breiten hohen Fenstern, die alt und in düsterem Ernste hinunter auf’s Meer, hinüber nach den Nebelstreifen der französischen Küste sehen. Ein Schimmer von Schwermuth liegt über der dunklen Facade. Auf der Messingplatte über dem „knock and ring“ jedes englischen Hauses stehen die Worte: „Hauteville-House“. Dies Gebäude – vor sechszig Jahren, als England und Frankreich im Kriege auf Tod und Leben waren, erbaute es ein englischer Korsar, und seit sieben Jahren wohnt hier einer der Edelsten der französischen Nation, einer der geächteten Soldaten der französischen Republik, der sich treu blieb, treu der Rache, dem Zorn, dem Gram, der Dichter Victor Hugo!

O, ihr solltet ihn nur sehen, wie er gealtert hat! Denn elf Jahre im Exil, elf Jahre mit dem Zorn im Herzen über das Unglück seines Vaterlandes, seitdem in ihm Napoleon im December 1851 die Gesellschaft gerettet hat; elf Jahre der Sehnsucht nach der Heimath – die zählen wie Kriegsjahre doppelt! Victor Hugo, der gefeiertste Dichter Frankreichs, der Mann, welcher durch zahllose Gesänge die Franzosen weinen lehrte – er schaut jetzt von der Höhe einer englischen Insel tagtäglich hinüber über das Meer nach seinem Vaterlande und mag um keinen Preis wieder dessen Bürger sein, so lange es im Besitz des Cäsar ist. Das Haar ist weiß geworden; die Züge des Grams und der Leiden haben sich in sein edles Antlitz gegraben – aber dies sanfte, verklärte Auge ist noch immer dasselbe, und in den Augen liegt das Herz.

Einsam lebt Victor Hugo auf Hauteville-House inmitten des Familienglücks, welches ihm das Geschick wie einen Alles überwindenden Trost gelassen. Noch lebt seine edle Gattin, die er einst mit seinen ersten Gesängen sich gewissermaßen erobert; seine Tochter, die ihm noch geblieben, pflegt sein Alter; seine beiden Söhne, Charles und Francois, von denen der Eine als Uebersetzer Shakespeare's sich bereits einen Ruf erworben, sind sein Stolz. Er liebt die Kinder noch, wie sonst. Alle Mittwoch giebt er fünfzehn kleinen Kindern, ausgewählt unter den ärmsten der Insel, ein Diner, und er mit seiner Familie servirt dabei. So trachtet er danach, wie er sich in einem Briefe äußert, „die Gleichheit und Brüderlichkeit in jenem Lande zum Verständniß zu bringen.“ Einige andere Verbannte auf der Insel besuchen ihn, und sie gehören zu seiner Familie. Hin und wieder kommt wohl auch ein alter Freund über’s Meer, um ihm die Hand zu drücken, und der ist sein Bruder.

Der Staatsstreich hatte Victor Hugo’s Vermögen ruinirt; kaum daß er einige Trümmer desselben retten und es durch seine Arbeit einigermaßen wieder ordnen konnte. Erst durch das Honorar für den Roman „les Misérables“, welches, so viel wir uns entsinnen, 400,000 Francs beträgt, wurde er wieder ein wohlhabender Mann, wenn auch – und zu seinem Bedauern – nicht dermaßen, um seiner Leidenschaft für Wohlthun nach Wunsch Genüge thun zu können. Durch den Ankauf von Hauteville-House ist er zu dem unverletzlichen Rechte eines englischen Bürgers gekommen. Sein Haus ist seine Burg, und vergeblich wären jetzt selbst des Kaisers Napoleon Anstrengungen, ihn aus Guernsey zu entfernen, wie er ihn erst aus Belgien, dann von Jersey zu vertreiben wußte. Gegen ein viertes Exil hat sich sonach der große Verbannte „Napoleon’s des Kleinen“ zu sichern gewußt, und er kann nun wenigstens inmitten eines halbfranzösischen Völkchens im Angesichte seines heißgeliebten Vaterlandes wohnen.

Victor Hugo hat Hunde, Vogel, Blumen – er liebte dies Alles von jeher; in der Einsamkeit seiner Verbannung liebt er es doppelt. Bald wird auch ein Pferd hinzukommen und ein Wagen, um über die Wiesen der Insel, durch die Gartengänge der üppigen Felder fahren zu können. Denn das Alter fordert auch schon sein Recht, und die Spaziergänge, die der Dichter am Ufer des Meeres tagtäglich zu machen pflegt, können nicht immer so ausgedehnt werden, als er es wünscht. Und doch ist er noch rüstig und voll Lebenslust. „Ich stehe früh auf,“ schreibt er uns, „arbeite den ganzen Tag und lege mich frühzeitig in’s Bett. Ich rauche nicht, aber ich esse Roastbeef wie ein Engländer und trinke Bier wie ein Deutscher, was,“ fügt er schalkhaft hinzu, „die „España“, ein Pfaffenjournal in Madrid, durchaus nicht abhält, zu behaupten, Victor Hugo existire gar nicht und der wahre Verfasser der „Miserables“ nenne sich Satan.“ Ist die Jahreszeit schön, so arbeitet er in seinem duftreichen Garten, und da hat er eine Art natürlichen Fauteuils zum Sitz, eine Felsplatte mit einer reizenden Aussicht, Firmain-Bay genannt. Fügen wir noch hinzu, daß Victor Hugo das treffliche und arbeitsame Völkchen liebt, in dessen Mitte er lebt, und daß er selbst von diesem verehrt wird, so glauben wir in Umrissen das interessante Lebensbild des Verbannten gegeben zu haben.

Noch lebt es in Jedermanns Gedächtniß, weshalb Victor Hugo sein Vaterland verlassen mußte: er war, nachdem er als Jüngling all seine Hoffnung auf das Königthum gesetzt, nach den Felonien und Verbrechen der Restauration ein Republikaner geworden und wollte ein solcher gegen Louis Napoleon bleiben. Als Mitglied der Nationalversammlung nahm auch er den Präsidenten Bonaparte 1848 in Eid und Pflicht, und als dieser 1851 sein gegebenes Wort vergaß, da organisirte Victor Hugo mit am entschlossensten den gesetzlichen Widerstand gegen den Staatsstreich. Er wußte wohl, was er that, und er selbst sagt es, daß mit der Annahme des Kampfes und seiner Wechselfälle er auch die Pflicht übernommen, „der Verbannung mit all ihren Leiden sich zu unterziehen, dem Decembermann unermüdlich entgegen zu treten!“ Deshalb schrieb Victor Hugo, nachdem ihn der Staatsstreich um sein Vaterland gebracht, dessen Gesetze er vertheidigte, das große Pamphlet „Napoleon der Kleine“.

Es war seine erste That im Exil; es flog von Brüssel aus mit seinem Feuer durch die Welt und überall zündete es damals Erbitterung und Haß gegen den Mann des December an. Es ist ganz in denselben glänzenden Antithesen geschrieben, die eines Effects sicher sind und die Victor Hugo als Poet in seinen Dramen und Romanen, als Publicist in den geistreichen Arbeiten „der Rhein“ (1842) und das „Tagebuch eines Revolutionairs von 1830“ gebraucht hatte. „Napoleon der Kleine“ war der Schrei der Rache, des Grimms, der Entrüstung eines Mannes, der von dem Beherrscher seines Vaterlandes in’s Exil gejagt worden war. Dieser Schmerz, der nur begriffen werden kann, wenn man an die Leidenschaft eines Franzosen für sein Frankreich – la patrie – denkt, lebte fortan mächtig in der Brust einer der feinfühlendsten Dichternaturen, und alle ihre innersten Aeußerungen zeugen von diesem Schmerz und dessen Wirkungen.

Belgien ist ein Vorland von Frankreich, Brüssel ein Faubourg von Paris; Louis Napoleon duldete es daher nicht, daß die französische Emigration hier wohne, so nahe dem Lande, zu dessen Gebieter er sich gemacht hatte und welches nur zu leicht durch die hineingeworfenen Feuerbrände in eine ihm verderbliche Flamme gesetzt werden konnte. Belgien wie die Schweiz waren nahe daran, die Waffen für ihr Recht zu ergreifen und das Asylrecht gegen den zweiten December zu vertheidigen; aber ihre Regierungen fügten sich doch schließlich, und die Flüchtlinge mußten wieder flüchten. Victor Hugo mit einem großen Theil der französischen Emigration ging nun nach Jersey; auch hier war er ja angesichts Frankreichs, noch in seiner Luft, in seiner Nähe. Damals lebte noch stark in den Gemüthern der Glaube, Napoleon’s Herrschaft werde durch einen allgemeinen Aufstand ein jähes Ende finden. Die Emigration stand deshalb auf Posten; sie war eine Armee, vollständig gerüstet, um beim ersten Signal aus Frankreich über dessen Grenzen zu rücken, hin auf Paris im Sieges- und Jubelmarsch, eine Armee der Rache für den Mann des December … das Signal blieb aus, die Armee stellte die Waffen mit düsterer Miene bei Seite, dann löste sie sich auf und verzweifelte an der Gerechtigkeit des Schicksals.

Alle diese Hoffnungen, diese Leidenschaften, all diesen Zorn und Grimm und Gram, die man Tag um Tag von hundert, ja tausend Gesichtern solcher Geächteter ablesen konnte – Victor Hugo empfand sie mit, war ihre Beute. Und als nun alles Hoffen und Bangen zu Ende war, da zog sich diese schwer erregte Natur in ihr heiligstes Innere zurück, und der Schmerz um den – vielleicht ewigen - Verlust seines Vaterlandes tönte sich in Klagelaute aus. Diese Klagelaute einer erdrückten, weinenden Dichterseele sind die 1856 erschienenen Gedichte „Contemplations“, die schönsten Perlen der Hugo’schen Poesie, tiefe, feierliche Betrachtungen der Natur, „Memoiren einer Seele“, wie er selbst sie nennt. Sie erschienen gerade in dem Moment, als ganz Europa nach einem mörderischen Kriege wieder aufathmete und die Glocken von allen Thürmen der Christenheit und den Minarets von Stambul

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_486.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)