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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

daß er ein Thor gewesen war? Er mußte ausstreichen, was in ihm gelebt, und vermochte er das nicht, so galt es wenigstens seine äußere Haltung zu retten, falls er ihr jemals vor Augen treten würde – mit seinem Willen aber sollte das Letztere niemals geschehen.

Er war fast unbewußt dem Fenster zugeschritten, ließ sich dort auf einen Sessel nieder und starrte, den Kopf in die Hand gestutzt, in die dunkele Nacht hinaus. Von der Straße herauf aber klangen jetzt mezza voce die Töne eines Leierkastens:

Ach wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?

und es wurde ihm, als solle er das Gesicht in die Hände drücken und sich ausweinen über ein ganzes verlorenes Lebensglück.




7. Die erste Wiederbegegnung.

Als Hugo am nächsten Morgen von seinem Frühstücke im nächstgelegenen Gasthause, wohin ihn Henderson gewiesen, zurückkehrte, fand er bereits Winter’s Wagen vor der Thür des Geschäftslocals, und besorgt, den Beginn der Geschäftsstunden versäumt zu haben, beeilte er sich die Office zu erreichen. Dort war aber auch des Buchhalters Platz noch leer, und Winter, am offenen Geldschrank stehend, drehte ihm lächelnd das Gesicht zu. „Ich freue mich, Sir, daß Sie schon hier sind,“ sagte er, „unsere Arbeiten beginnen in der Regel erst nach acht Uhr, indessen möchte ich mit dem nächsten Dampfer eine Sendung nach Europa fortschaffen, für die, wie ich erst bemerkt habe, keine Viertelstunde mehr zu verlieren ist. Sie sollen damit gleich Ihr Amt als deutscher Correspondent antreten. Nehmen Sie vorläufig von meinem Pulte Besitz, morgen soll für andere Bequemlichkeiten gesorgt sein. Hier sind die nöthigen Notizen, welche ich für Sie aufgesetzt habe, Sie werden mir sagen, was Ihnen darin unverständlich ist; hier sind eine Partie Werthpapiere, die ich Ihnen übergebe, damit Sie danach die nöthigen Angaben in Ihre Briefe einschalten; hier ist das Copirbuch, nur für derartige Geschäfte bestimmt, und Sie werden die Weise der Eintragung aus den vorhergehenden Fällen erkennen. Jetzt übersehen Sie sich ruhig die Angelegenheit – ich darf Ihnen dabei nicht erst sagen, daß es in der Office eines Kaufmanns nichts so Unbedeutendes giebt, das nicht strengstes Geschäftsgeheimniß bleiben müßte – und dann sagen Sie mir, was Sie noch zu weiterer Erläuterung bedürfen.“

Der junge Mann hatte nicht ohne ein leichtes Bangen nach den ihm vorgelegten Papieren, die eine Leistung in einer ihm völlig fremden Sphäre verlangten, gegriffen und die Durchsicht der leitenden Notizen begonnen, während Winter sich eine Cigarre anzündete und langsam den Raum durchschritt; bald aber sah Jener, daß er kaum in seiner Arbeit fehl gehen könne. Es handelte sich um den Verkauf einer Anzahl Stadt-Obligationen durch verschiedene Bankhäuser in Deutschland und um die Darstellung der Sicherheit, welche die Papiere böten, sowie der besonderen Vortheile des Geschäfts für die Unterhändler. Die Angaben waren so exact, daß er, sobald er nur den Sachverhalt gefaßt, nirgends mehr einen Zweifel fand; zu größerer Sicherheit indessen wandte er sich nach dem Geschäftsherrn und gab diesem eine ausführliche Uebersicht dessen, was er zu schreiben gedenke.

„Vortrefflich!“ nickte Winter, und um seinen Mund spielte es wie eine unterdrückte Befriedigung, „man hört, daß Sie den Advocaten in sich haben und Ihren Fall zu vertreten wissen. Wenn Sie sich die Anfangsschwierigkeiten Ihres neuen Standes nicht verdrießen lassen und fest an der Stange halten, die Sie jetzt ergriffen haben, so will ich Ihnen eine Zukunft verbürgen, Sir! Bis Mittag haben wir Zeit die Sendungen zum Abgang fertig zu machen, und bis dahin werde ich zur Unterschrift wieder zurück sein!“ Er griff nach seinem Hute, ging nach seinem Wagen, und Hugo begann sich auf dem angewiesenen Platze, der alle Erfordernisse für seine Arbeit bot, heimisch zu machen. Einige Minuten musterte er die vor ihm liegenden Werthpapiere, die in ihrer Art ihm völlig neu waren, bald aber ward sein Auge durch eine der Unterschriften angezogen: Charles B. Graham, Comptroller. War das Winter’s Schwiegersohn, welcher dieses hauptsächliche Amt in der städtischen Finanz-Verwaltung einnahm? Mit dieser unwillkürlichen Frage aber traten auch alle die Beschuldigungen, welche gestern im deutschen Gasthause auf die Finanz-Beamten der Stadt gehäuft worden waren, in seine Erinnerung, mußte er an die halbdunkeln Aeußerungen des Wirths über Winter’s Geschäft denken, und einen Augenblick lang wollte ihn eine Art Unruhe über seine eigene Stellung überkommen; ein aufmerksamer Blick auf die Obligationen indessen benahm ihm seine unbestimmten Befürchtungen. Die Papiere waren, wie es deutlich darin ausgedrückt, auf Grund eines bestimmten Gesetzes ausgestellt worden, allen Formen war augenscheinlich genügt, und Winter hatte ihre Verwerthung sichtlich nur als einfaches Geschäft übernommen. Hugo begann ruhig seine Arbeit; noch einmal indessen hielt er kurz nach dem Beginn seines ersten Briefs an. Winter verkaufte die Stadtschuldscheine mit 25 Procent Verlust, trotzdem die Sicherheit dafür eine überflüssig genügende und der Zinsfuß der doppelte des in Deutschland gebräuchlichen war, und erst jetzt fiel es dem Schreibenden auf, daß man bei einem solchen Preise sich nach Europa wenden mußte, um gute Papiere los zu werden. Indessen gab Winter in seinen Notizen an, daß die Stadtbehörde ihn zu dem Nachlasse autorisirt habe, um jeder ferneren Zögerung in dem Abschlusse des Geschäfts vorzubeugen, und mit einem halben Kopfschütteln schrieb Hugo weiter – er hatte allerdings zu wenig Erfahrungen im Geldgeschäfte, um auf sein eigenes Urtheil etwas geben zu können.

Nach einer Viertelstunde trat der Buchhalter ein, warf indessen nur einen flüchtigen Blick auf die neue Erscheinung und nahm von seinem Platze Besitz, bald sich völlig in seine Arbeit versenkend. Henderson war in dem äußern Raume zwischen den Ballen und Fässern beschäftigt, betrat nur ab und zu einmal die Office und schien sich eben so wenig um den neuen Mitarbeiter zu bekümmern, der ohne aufzublicken sein Werk förderte, um nicht hinter Winter’s Erwartungen zurück zu bleiben. Schon eine halbe Stunde vor Mittag griff er nach dem Copirbuche, um darin seine Aufgabe zu enden, und der erste Blick auf die geöffneten Blätter belehrte ihn, daß das Buch bisher von dem Principale allein geführt worden war. Es zeigte sich in tabellarischer Form, und Hugo’s Auge lief über Geschäfte in den mannigfachsten Werthpapieren, die, je weiter er zurückblätterte, sich zu vielen Millionen aufsummirten; nach den verschiedensten Theilen von Europa waren die verkauften Fonds gegangen; mit Deutschland schien aber jetzt erst die Verbindung eröffnet worden zu sein. Unwillkürlich warf der junge Mann einen Blick über die einfache Geschäftsstube mit ihrem verkrümmten Buchhalter, in welcher solche Summen umgesetzt wurden, und hinaus auf die Speditionsgüter, deren Gewinn neben jenen Geschäften doch kaum der Mühe lohnen konnte. Dann aber stieg eine halbe Verwunderung in ihm auf, daß Winter schon am ersten Tage seines Eintritts ihm einen so unbedingten Einblick in seine Angelegenheiten gestatte. Hatte der Mann ihn durch ein sofortiges Vertrauen gewinnen und sich dadurch am erfolgreichsten seiner Discretion versichern wollen, so hatte er bei ihm allerdings den rechten Weg eingeschlagen; demohngeachtet fühlte sich Hugo fast mehr drückend als freudig davon berührt; immer stand im Hintergründe seiner Seele ein Gefühl, als dürfe er sich nicht ohne Vorbehalt einer Stellung hingeben, die noch nicht völlig klar vor seinen Augen lag, so sehr er auch Ursache hatte, sie als ein völliges Glück für sich zu betrachten.

Genau zu Mittag trat Winter wieder in die Office. Er übersah nur mit einem flüchtigen Blicke die sauber geschriebenen deutschen Briefe und sagte launig: „Davon verstehe ich nichts und muß mich völlig in Ihre Hand geben!“ Sorgfältiger aber ging er Hugo’s Notizen im Copirbuche durch und nickte endlich zufrieden, das Buch wieder in einem verschlossenen Fache des eisernen Schrankes verwahrend. „Und nun gehen Sie zu Tische, Sir,“ fuhr er fort, „das Weitere werde ich selbst besorgen. Für den Nachmittag aber,“ setzte er lächelnd hinzu, „wird Sie wohl Carry erwarten; ich habe ihr versprechen müssen, Sie nicht hier zu halten!“

Hugo konnte sich nur schweigend verbeugen. Das ganze Benehmen des Mannes that ihm so wohl, und doch war es ihm, als hätte er sich lieber in dem einfachen Verhältnisse eines Geschäftsgehülfen zu ihm gesehen, das eine geringere Pflicht der Dankbarkeit ihm aufgelegt hätte.


(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_452.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)