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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein Blick in’s freie Italien.

Tagebuch-Blätter von Adolf Stahr.
Nr. 3.
Jetzige Physiognomie Mailands – Die patriotischen Geheimverbindungen der Lombardei – Aus dem Mailänder Dom – Aus dem Selbstgespräche Pio Nono’s - Das Bild „Friedensschluß von Villafranca“ – Italienisches Urtheil über Louis Napoleon – Turin als „simple“ Stadt - Bei Magenta – Das aufstrebende Turin.
Mailand, im Spätherbst 1861.

Gestern Nachmittags nahmen wir Abschied von den lieben Freunden in Varenna, um über Como nach Mailand zu gehen, wo uns im Albergo Europa, dessen Inhaber ein Verwandter unseres Signor Marcionni, die freundlichste Aufnahme und dasselbe ruhige Zimmer, das wir vor drei Jahren inne gehabt, empfingen.

Es ist kaum zu sagen, wie sich seit jener Zeit die Physiognomie der gewaltigen alten Lombardenstadt verändert hat. Nicht die steinerne der Gebäude und Paläste, wohl aber der geistige Ausdruck. Die Menschen schienen mir anders auszusehen und drein zu schauen als damals. Es war, als sei von ihnen ein Schleier weggenommen. Der in’s Innere gezogene, düstere, feindselige Ausdruck, das Gepräge finstern Hasses, das der dauernde Anblick der ihnen verhaßten Fremdherren ihren Zügen aufgedrückt hatte und das man überall wahrnahm, wenn die österreichischen Patrouillen mit geladenem Gewehre und den aufgesteckten Bajonneten paarweise allstündlich die Straßen der Stadt durchschritten – dieser sinistre, trotzigscheue Ausdruck auf den Gesichtern der Menschen war verschwunden. Sie schienen mir Alle menschlich freier, unbefangener dreinzuschauen, und unser Deutschreden im Kaffeehause und an den öffentlichen Orten zog nicht mehr, wie sonst, verdachtvolle und böswillige Blicke auf uns. Alle Cafés waren mit Offizieren erfüllt; aber es waren nicht mehr schnurrbärtige Ungarn und Kroaten und Deutsche der „Erblande“, die sich in der „verfluchten Stadt“ und in dem „verteufelten Lande“ überaus ungemüthlich, ja geradezu unglücklich fühlten, – sondern Italiener – Sarden und Lombarden, Kinder des eigenen Landes, und sie gingen rauchend und plaudernd Arm in Arm mit jungen Männern in Civilkleidern – ein Anblick, den wir sonst in Mailand niemals gehabt hatten. Auf dem Hofe der Brera stand die riesige Statue des ersten Napoleon’s, die man aus den Kellergewölben, in denen sie fast ein halbes Jahrhundert gelegen, hervorgeholt und in der Mitte der vaterländischen Berühmtheiten aufgestellt hatte; und auch der Bilderschmuck und die Inschrift des gewaltigen marmornen Triumphbogens auf dem Castellplatze hatten allerlei Veränderungen erfahren. Das alte Castell aber sah leer und düster aus, eben so leer und düster wie der ehemalige k. k. Palazzo am Domplatze, vor dem jetzt wohlbeleibte Bürger in der Uniform der Nationalgarde, statt der stattlichen Garden des Vicekönigs, Wache hielten.

Ich ging durch die Säle der Brera-Gallerie, um einige meiner Lieblinge unter den Bildern derselben aufzusuchen. Aber ich hatte doch keine rechte Andacht vor dem Sposalizio Rafael’s und vor den Meisterwerken Luini’s. Meine Seele war zu unruhig, zu sehr in Anspruch genommen von der ungeheuern Wandlung, welche vor sich gegangen, seit ich Mailand zum letzten Male gesehen. Damals, 1858, dachte kein Mensch bei uns an die Möglichkeit solcher Dinge, die in dem kurzen Zeitraume von kaum zwei Jahren zu thatsächlichen Wirklichkeiten geworden sind. Eine Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft erschien den meisten als eine Utopie, die Herrschaft des Doppeladlers über die Lombardei und seine Hegemonie und Suprematie in Italien befestigter als jemals. Man lachte über das Wort des kleinen Piemontesenkönigs von dem „Schmerzensschrei Italiens“, der zu ihm dringe und ihn zum Helfen auffordere. Man belächelte die Hartnäckigkeit der Lombarden, die jede Annäherung Oesterreichs verschmähend in ihren Haßempfindungen gegen die Austriachi und in ihren Hoffnungen verharrten. Man glaubte es nicht, daß unter den Augen des österreichischen Regiments und trotz seiner zahllosen wohlbesoldeten Spione entschlossene Männer aus der Jugend der höheren Stände im Geheimen wohlgegliederte patriotische Verbindungen unterhielten, die, sich durch die ganze Lombardei erstreckend, im Cabinete Camillo Cavour’s ausmündeten, der durch sie von allen geheimsten Bewegungen und Maßregeln Oesterreichs in der Lombardei Kenntniß erhielt. F. M. sagte mir, daß kurz vor und während dem Ausbruche des Kriegs ein förmlicher Postdienst zur sichern Ueberbringung mündlicher und schriftlicher Nachrichten mitten durch das österreichische Heer nach Turin hin eingerichtet war, dessen Organisation so geschickt gestaltet war, daß eine Entdeckung geradezu als eine Unmöglichkeit gelten konnte. Die Mitglieder dieser Vereine in Mailand kannten sich unter einander selbst nur in ganz kleinen Gruppen, versammelten sich nie in geschlossenen Räumen, sondern meist unter freiem Himmel auf Jagdpartien und Spaziergängen, am sichersten unter den Kanonen des Castells. Die Häupter schliefen in den letzten Monaten vor Ausbruch des Krieges keine Nacht in ihren Wohnungen, verwahrten nie ein compromittirendes Schriftstück und standen im besten Vernehmen mit jener Classe der Arbeiter, Facchinen und sonstigen Proletarier, welche im Mailänder Jargon mit dem Namen der „Barrabasse“ (i barraba) bezeichnet werden. Daß die Oesterreicher geschlagen werden würden, galt ihnen für absolut sicher, und man trug sich für diesen Fall mit Plänen, die durch Mailand sich zurückziehenden Truppentheile in einem Straßenkampfe zu vernichten – Pläne, deren Ausführung vorzüglich an der Rücksicht auf das Schicksal der Stadt von Seiten der communistisch unterwühlten Proletariermassen scheiterte.

Von der Höhe des Domthurmes überschaute ich die ungeheuere Stadt und die unabsehbare Ebene, in deren Mitte sie sich hinstreckt. Es war zum ersten Male, daß ich diesen wunderbarsten Marmorbau der Welt bestieg; aber Niemand soll versäumen, es zu thun. Denn selbst bei getrübter Aussicht ist es noch überaus lohnend. Nordwestlich über das alte Castell, das Zwing-Mailand der Sforza, hinweg strahlt das Schneegebirge des Simplon und streckt sich weithin im Halbkreise die blaue Pracht der Alpen.

Unter unserm Haupte aber flatterte stolz und freudig im Morgenwinde das dreifarbige Banner des freien Italiens, das auf den Schlachtfeldern im Süden und Osten dieser weiten Ebenen neu errungen ward für den Stolz der alten Lombardenstadt. Im Jahre 1848, in den blutigen Märztagen der Erhebung Mailands, war das Dach des Domes die Stätte, von welcher aus österreichische Jäger, gedeckt hinter den marmornen Pfeilersäulen und statuengeschmückten Nischen, auf die Insurgenten den Tod hinunter schmetterten. Ein einziger Oberjäger rühmte sich später, von hier aus sechsunddreißig Insurgenten, die ihrerseits hinter den Kaminen der benachbarten Häuserdächer hervor ihre Büchsen gegen die Besatzung des Domes richteten, niedergestreckt zu haben! Aber am 20. März wehte dennoch von der Statue des goldenen Engels auf der Spitze des Domthurmes die dreifarbige Fahne der Befreiung. –

Ich habe schon zu Anfang dieser Mittheilungen erwähnt, wie sich selbst ein mir bekannter kunstsinniger Geistlicher über die Nothwendigkeit einer Lösung der römischen Frage zu Gunsten der politischen Einheit Italiens ausdrückte. Noch merkwürdiger aber war mir eine andere Mittheilung über die Haltung des unglücklichen Pio nono. Er sei tief gemüthskrank, hieß es, und leide schwer unter den Verhältnissen. Zuweilen rege sich der italienische Patriot in ihm unter der dreifachen Krone, und man habe ihn im Selbstgespräche aus tiefer Versunkenheit ausrufen hören: Eppure - l’Italia, unita sarebbe una bella cosa![1]

Zwei Tage später.

Heute haben wir fast den ganzen Tag mit unserm Freunde, dem Maler Girolamo Induno, zugebracht, der uns gleich nach seiner Rückkehr von Varenna aufsuchte und uns zu seinem Bruder Domenico führte, in dessen Atelier er interimistisch auch seine Werkstatt aufgeschlagen hat, da das seinige durch einen Umbau verstört war. Die Ereignisse der letzten Jahre haben auch auf die Kunst mächtig eingewirkt. Die Plastik ist überwiegend mit monumentalen Aufgaben beschäftigt, wovon wir, wie unser Freund uns sagte, in Turin, wohin wir morgen zu gehen gedenken, die sprechendsten Belege finden würden. Ebenso hat sich die Malerei Italiens, die, wie die Plastik, hier in Mailand ihren Hauptsitz hat, mit großer Macht auf das Historische gewendet, wovon wir in den Arbeiten

der beiden sehr begabten Brüder die Beweise sahen. Leider waren

  1. Und doch - wäre ein einheitliches Italien ein herrliches Ding!
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_366.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)