Seite:Die Gartenlaube (1862) 354.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

auf, um dem Andern nach dem Hauptausgange des Saales zu folgen.

Das geräumige Vorzimmer war nur von zwei Lackaien besetzt, und an einen derselben wandte sich der rasch Vorangeschrittene mit kurzer, leiser Ansprache. Der Diener schien indessen ungewiß zu sein, wie das an ihn gestellte Verlangen zu erfüllen, ließ einen unsichern Blick auf den zurückstehenden Referendar fallen, und erst nach einigen erneuten bestimmteren Worten des Sprechers drehte er sich einer Seitenthür zu, diese öffnend und durch ein hier befindliches Garderobezimmer nach einem hintern Raum voranschreitend, der augenblicklich nur dazu bestimmt schien, einzelne ans dem Wege gestellte Möbels und Decorationsgegenstände aufzunehmen. Nur ein einziges Licht brannte hier, einen trüben Schein über die hohen Wände und die umherstehenden Dinge verbreitend; der Mann in Uniform nickte indessen befriedigt und sandte den Lackai mit einer Handbewegung zurück; erst aber als er diesen das vordere Garderobezimmer verlassen sah, drückte er die Thür des betretenen Raumes zu.

Hugo hatte einige Schritte vorwärts gethan und stand mit leise zusammengezogenen Augen, seine stattliche Figur fest und hoch ausgerichtet, eine Anrede erwartend. Der Andere wandte sich jetzt rasch nach ihm um und warf einen kurzen, finstern Blick über seine ganze Erscheinung. „Ich bin der Graf Wasiliwitsch,“ sagte er dann in vornehm abgebrochener Weise, „der Ihre Karte wünscht oder eine genügende Erklärung für ein Benehmen, das kaum anders als absichtliche Beleidigung aufgefaßt werden kann.“

In Hugo’s Arme zuckte es bereits, dem ersteren Verlangen zu genügen; es paßte ganz zu seiner augenblicklichen Stimmung, einen scharfen Gang für das noch immer räthselhafte Wesen, das all sein Denken und Fühlen erobert, zu machen – da trat plötzlich ernüchternd und dämpfend der Gedanke an seinen Vater in seine Seele. Ein Duell um eines Mädchens willen, wie auch der Ausgang hätte sein mögen, wäre bei der streng bürgerlich soliden Denkungsweise des alten Beamten, wie die Verhältnisse bereits lagen, der Anlaß zu einem neuen, vielleicht unheilbaren Bruche geworden, und dagegen sträubte sich sein ganzes Herz. Sein Gegner hatte kaum ausgesprochen, als er auch schon mit seinem Entschlusse fertig war.

„Ich kann Ihnen nur erklären, Herr Graf,“ sagte er, ruhig und ernst den Kopf aufrichtend, „daß ich zu jeder Zeit dem Wunsche einer Dame, mich zu sprechen, genügen werde, daß nur eine gereizte Stimmung daraus eine Beleidigung für einen vielleicht weniger Bevorzugten bilden kann, und daß ich deshalb jetzt keinen Grund sehe, Ihnen in irgend einer Weise Genugthuung zu geben!“

Ein dunkles Roth stieg in das gebräunte Gesicht des Andern, und auf seiner Stirn begann eine geschlängelte Ader hervorzutreten. „Ah, Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben, wirklich!“ sagte er, langsam den Kopf zurückbiegend. „Ich habe Ihnen als Theilnehmer der Gesellschaft die Ehre erzeigt, Sie auf gleichem Fuße zu behandeln – und Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben! Eh bien, Monsieur" so werde ich mir diese Genugthuung selbst verschaffen!“ fuhr er fort, während sich ein böser Ausdruck um seinen Mund legte und er mit einem Zuge den Galanterie-Degen aus der Scheide riß, „ich werde Ihnen so lange die flache Klinge zu kosten geben, bis Sie knieend Abbitte für Ihr beeidigendes Benehmen leisten –“

Nur eine kurze Bewegung in den Schultern machte sich an Hugo’s Gestalt sichtbar; er war bleich geworden, aber sein Auge blickte voll und fest auf den Gegner. „Lassen Sie nur Zweierlei in Ihrem ungereimten Zorne nicht außer Acht,“ erwiderte er, mit Macht seine Erregung unterdrückend, „daß wir nicht auf Ihren russischen Gütern, sondern im Hotel eines preußischen Ministers sind – und daß außerdem Ihre Klinge einen andern Weg finden möchte, als den von Ihnen beabsichtigten –“

„Auf die Kniee!“ rief der Russe mit heiserer, gewaltsam gedämpfter Stimme, und der Degen schwirrte durch die Luft; mit einer schnellen Seitenbewegung aber hatte auch der Bedrohte die Klinge gepackt und suchte mit einer kräftigen Drehung sie der Hand des Angreifers zu entwinden; dieser indessen schien darauf vorbereitet gewesen zu sein und schlug einen so plötzlichen Kreis mit dem Arme, daß der festgehaltene Stahl das Handgelenk des Referendars zu zerbrechen drohte; von Neuem erhob sich die freigewordene Waffe, von Neuem und dichter am Griff als vorher fing sie der Angegriffene auf – da war, wie hingerissen von seiner Wuth, der Russe einen Schritt zur Seite getreten, verfing sich in einem der umherliegenden Gegenstände und stürzte; Hugo hatte instinctmäßig den Degen losgelassen, um nicht mit zu Boden gerissen zu werden, und im nächsten Momente sah er seinen Feind, die eigene Waffe in die Seite gestoßen, am Boden liegen. Einen unarticulirten Laut von sich gebend, hatte der Gestürzte mit beiden Händen nach der Verletzung gegriffen, dann aber schien er plötzlich die Besinnung zu verlieren.

Ein Schrecken so jäh und gewaltig hatte bei der plötzlichen Katastrophe den jungen Mann durchzuckt, daß er zwei Secunden lang wie völlig erstarrt auf den Gefallenen blickte, dann aber trat eben so jäh die Lage, in welche er gerathen, mit einer entsetzlichen Klarheit vor seine Seele. Was der Degenspitze ihre verhängnißvolle Richtung gegeben, ob seine eigene Hand oder die unwillkürliche Bewegung des Verletzten, konnte wohl niemals entschieden werden; Thatsache aber blieb es, daß der vornehme Ausländer in einem zeugenlosen Streit mit ihm gefallen war, gefallen im Hause eines preußischen Ministers, und völlig fest stand es, daß er selbst in seiner niedern Stellung am wenigsten geschont werden würde, um den Vergeltungsforderungen der russischen Gesandtschaft genug zu thun, daß alle Angaben, die er zu machen vermöge, kaum eines Quentchens Schwere zu seinem Vortheil wirken konnten. Alles das aber war in Secundenschnelle in seinem Gehirn aufgeschossen, und schon hatte er sich auch mit bebendem Herzen niedergebogen, um, dem ersten Drange folgend, die Degenspitze aus der Wunde des Daliegenden zu ziehen. Im Nu quoll das Blut durch die reiche Uniform hervor, zugleich aber öffnete auch der Verwundete die Augen. „Schaffen Sie Hülfe, schnell!“ stöhnte er und verlor dann sichtlich von Neuem die Besinnung.

Eine Viertelminute stand Hugo starr aufgerichtet, mit Macht seine Besonnenheit zusammenraffend; ans dem Saale klang die Musik herüber, ihm seine Lage in ihrer vollen Schärfe zum Bewußtsein bringend; dann raffte er hastig den ihm entfallenen Hut auf und schritt, seinem Gesichte die möglichste Fassung gebend, nach dem Vorzimmer.

„Der Graf Wasiliwitsch wünscht Sie rasch zu sprechen! “ wandte er sich an den ersten ihm entgegentretenden Lackai. „Lassen Sie ihn nicht warten!“ setzte er, sich zu voller Ruhe und Bestimmtheit zwingend, hinzu, als der Diener, wie erschreckt von dem Ausdrucke seines Gesichts, aufblickte. Dann nickte er leicht und wandte sich nach dem Ausgange – als er indessen die Thür öffnete, meinte er jeden seiner Nerven unter der Sorge, daß ihm hier noch irgend ein Umstand den freien Weg verlegen möge, beben zu fühlen, und erst als er das Geländer der Haupttreppe in der Hand hielt, als er, sich frei seinem Seelenzustande überlassend, flüchtigen Fußes die leeren geschmückten Räume hinabeilte, begann der fast erstickende Druck der letzten Augenblicke von ihm zu weichen.

Er hatte das Halbdunkel der erleuchteten Straße erreicht und war, noch keines rechten Gedankens mächtig, mechanisch in der Richtung seiner Wohnung vorwärts geeilt, als er, wie plötzlich zu sich selbst kommend, seinen Schritt anhielt. Ohne bestimmten Entschluß, nur halb instinctmäßig, war er der ersten Entdeckung des Unglücks ausgewichen. Viele aber, die ihn kennen mochten, hatten ihn mit dem Grafen den Saal verlassen sehen, und wenn jetzt sein Name als Urheber der That genannt wurde, so war seine Wohnung der sicherste Ort, um dem kaum vermiedenen Schicksale einer Verhaftung zu verfallen. Eine kurze Weile wollte es ihm überhaupt scheinen, als sei eine Flucht der falscheste Weg gewesen, um seine Zukunft zu retten; als ihm aber die Störung, welche der Vorfall auf die Festlichkeit ausüben mußte, der Rang des Russen und das dadurch hervorgerufene Aufsehen vor die Seele trat, fühlte er, wie wenig bei den obwaltenden Umständen seine ganze Unschuld im Stande gewesen wäre, ihn vor dem hereinbrechenden Sturme zu schützen. Es war besser so – nach Hause aber durfte er jetzt nicht! In kurzem Entschlusse bog er um die nächste Ecke und wandte sich der „Königsstadt“ zu, wo in einem der mittleren Hotels Fritz Römer sein kurzes Quartier genommen hatte. In dem allgemeinen Gastzimmer war noch Licht, als er das Haus erreichte, und der erste Blick durch die geöffnete Thür ließ ihn zu seiner Erleichterung den Freund unter den übrigen Gästen entdecken. Ueberrascht erhob sich dieser bei seiner Näherung, that aber dann in sichtlicher Betroffenheit über den Gesichtsausdruck des Eingetretenen die Augen groß und ängstlich auf.

„Komm nach Deinem Zimmer!“ raunte ihm Hugo, jeder Frage zuvorkommend, zu und wandte sich wieder nach der Vorhalle.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_354.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)