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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 22.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Er wandte rasch den Kopf zurück und sah sie mit eng zusammengerafften Kleidern in die Ecke gedrückt – es war dadurch allerdings ein Stück des improvisirten Sitzes frei geworden, aber doch kaum genug, um nicht ein dichtes Aneinanderschmiegen zweier Sitzenden nothwendig zu machen, und es erschien ihm wie ein Mißbrauch der augenblicklichen Lage des Mädchens, einen Vorschlag anzunehmen, den ihr nur seine ungeschützte Stellung entrissen haben konnte. „Ich danke Ihnen, Miß,“ erwiderte er, „ich würde Sie nur arg beengen, und die geringe Nässe hier ist kaum der Beachtung werth!“

„Ihre Rücksicht wird mich zwingen, selbst meinen Platz zu verlassen,“ gab sie mit einer Art Ungeduld im Tone zurück; „ich hasse alle die nur vom modernen Umgangstone gebotenen Opfer und ich mag nicht auf Ihre Kosten meiner Bequemlichkeit genug thun –“

„Sie werden ungerecht, Miß,“ unterbrach er sie, und es zuckte in ihm, diesen eigenthümlichen Charakter zu nehmen, wie er sich gab; „ich gedachte nur die selbstverständliche Bescheidenheit jedes gebildeten Menschen zu üben, der die Sonderbarkeit Ihrer Lage Ihnen nicht noch schwerer machen will; indessen haben Sie völlig über mein Verhalten zu gebieten!“ und sich seines Ränzchens entledigend, machte er sich bereit, den engen Sitz neben ihr einzunehmen. Sie zog die Schultern eng zusammen und preßte sich gegen die Seitenwand; er mußte aber dennoch seinen Arm hinter ihren Rücken schieben, um den nöthigsten Raum zu gewinnen.

„Sie haben es gewollt, Miß!“ sagte er zögernd, als bei der dichten Berührung seines Körpers ihr Gesicht einen Schatten bleicher ward und ihre Züge einen Ausdruck von Starrheit annahmen; sie aber wies statt der Antwort nach dem Eingange, der nur noch wenig über die Höhe des vorüberschießenden Wassers empor stand und soeben von einer Springwelle fast bis zu den Füßen der Dasitzenden überfluthet ward.

„Wir werden aber dennoch nicht lange in dieser Situation bleiben können,“ begann er wie im leichten Kampfe mit sich nach einer Pause, welche Beide in steifer Bewegungslosigkeit verbracht; „gönnen Sie sich Bequemlichkeit, Miß, legen Sie sich an meinen Arm zurück und vertrauen Sie meiner Ehrenhaftigkeit; wir wissen ohnedies nicht, wie lange wir hier werden verbringen müssen –“

Sie warf einen raschen, festen Blick m seine Augen. „Ich habe noch nicht an Ihrer Ehrenhaftigkeit gezweifelt, Sir, sonst säßen wir nicht hier!“ sagte sie mit eigenthümlich tiefem Klänge ihrer Stimme. „Aber Sie mögen Recht haben, daß es Thorheit ist, sich jetzt noch mehr zu ermüden!“ setzte sie, leicht den Kopf neigend, hinzu, und wie von einem beschwerlichen Zwange erlöst, gab sie ihre gepreßte Haltung auf und ließ ihre Gestalt frei an der ihres Begleiters ruhen, ein leichtes Roth trat wieder in ihr Gesicht, und dann hob sie mit einem freien, hellen Lächeln langsam den Kopf nach ihm.

Der junge Mann fühlte plötzlich diese weichen, eleganten Formen, ihm völlig hingegeben, in seinem Arme, fühlte ihren klaren Blick wie einen warmen Sonnenstrahl in seine Seele fallen, und einen Moment lang überkam es ihn, als könne er der Versuchung nicht widerstehen, seinen Arm fest um das Mädchen zu schließen – ein Moment nur war es, und noch keine Muskel hatte unter dem Verlangen gezuckt; aber es schien, als habe sie dennoch empfunden, was in seiner Seele vorgegangen; eine tiefere Färbung trat in ihre Wangen, ihr Blick wandte sich, seinem Auge ausweichend, dem Freien zu, und ihre Schultern zogen sich, als wollten sie seine Berührung vermeiden, wieder leicht zusammen; schon nach einigen Secunden aber fragte sie in völlig ruhigem Tone: „Sie wissen vielleicht, wie spät es ist? Ich fürchte, der Abend überrascht uns hier!“

Der junge Mann zog seine Uhr, glücklich, der Befangenheit zu entgehen, die ihn überkommen hatte. „Erst Vier vorüber Miß,“ sagte er, „wir haben noch drei Stunden vollen Tag, und das Gewitter ist zu heftig, als daß es nicht bald enden sollte. Ihr Herr Vater und der zweite Gentleman werden aber trotzdem wohl schon schwere Sorge um Sie gehabt haben!“

„Mein Vater? Was wissen Sie denn von meinem Vater?“ fragte sie rasch und befremdet aufsehend.

„Ich vermuthete nur aus seinem ängstlichen Forschen nach Ihnen, daß er es sei!“ gab Jener zurück und begann dann in kurzen Zügen seine Begegnung beim Ersteigen des Berges mitzutheilen.

Sie hörte aufmerksam zu; als er aber der Aeußerung des zweiten Reisenden über sie erwähnte, zuckte ein Ausdruck von Geringschätzung über ihr Gesicht. „Hat er das gesagt? Nun so scheint er doch allgemach zur Erkenntniß zu kommen!“ nickte sie, wie mehr zu sich selbst sprechend. „Ich gehe allerdings gern selbstständig meinen Weg, wenn ich auch künftig die Einsamkeit in den Bergen etwas mehr vermeiden werde,“ wandte sie sich nach ihrem Gefährten, und jetzt legte sich ein Zug voller Laune um ihren frischen Mund. „Mister Graham – das ist der zweite Gentleman, welchen Sie erwähnten – konnte sich nach Besichtigung des Gletschers nicht von einem nochmaligen Frühstück im Hospiz trennen, und ich suchte während dessen eine neue Fernsicht für mich zu gewinnen. Ziemlich sicher bin ich, daß ich bei meinem Aufwärtssteigen in die Felsen stets einem gebahnten Pfade folgte, obgleich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_337.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)