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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Hinter ihnen und durch sie verdeckt liegt der Mont-Blanc, und unwillkürlich füllt sich die Seele bei dem Gedanken daran mit neuen riesigen Vorstellungen, die sich mit dem, was dem Auge geboten ist, zu einem noch gewaltigeren Ganzen vereinen. Nach der Thalseite zu aber fiel der Gletscher wie ein gefrorener Wasserfall in Hunderten der seltensten Formationen, überall von dunkeln Spalten zerrissen, hinab, und über dieser wilderhabenen, erstarrten Natur lag ein Schweigen, in welchem die hier und da aus verborgenen Höhlen aufschießenden Dunstsäulen, die einen Augenblick den Horizont umlagerten und dann in gleicher räthselhafter Schnelle versanken, wie das Auftauchen riesiger Berggeister erschienen.

Der Reisende war in stillem Beschauen langsam vorwärts geschritten und stand jetzt vor dem Pfade, der, zwischen den Hindernissen der Umgebung sich hinwindend, nach der Eisfläche hinüber führt; indessen schien sein langsam umherschweifendes Auge einen andern Punkt für sein nächstes Ziel entdeckt zu haben. Einen zweiten schmalen Fußweg, der sich am Abhange des Berges hinschlängelte, betretend, wandte er sich einer Felsenpartie zu, welche die Möglichkeit für einen noch weitern Rundblick versprach; nach halbstündiger, immer rauher werdender Wanderung indessen blieb er plötzlich stehen und sah überrascht um sich. Unweit von ihm schien der ganze Abhang einer Höhe sich losgelöst, mit den gewaltigen Trümmern seinen Weg verrammelt und Felsenstücke der größten Dimensionen bis weit hinüber nach dem Eise des Gletschers geschleudert zu haben; ringsumher starrte ihm ein Bild wilder Zerstörung entgegen; da aber, wo der Fall augenscheinlich geschehen, erhob sich, alle andern Spitzen überragend, eine wohl fünfhundert Fuß hohe, den Bruch deutlich zeigende Felsenwand, und der junge Mann vermochte jetzt sich das vernommene Geräusch beim Ersteigen des Berges zu erklären. Der Sturz ganzer Felsenmassen, die, von Gebirgswassern unterwaschen, ihren Stützpunkt verloren haben, ist in diesem Theile der Alpen etwas nur Gewöhnliches. Langsam und aufmerksam musterte er die Höhe; nach kurzer Weile aber blitzte sein Auge auf und heftete sich fest auf einen Punkt, wo die Fortsetzung der Gebirgsspitzen sich an die gebrochene Stelle anschloß. Dort oben bewegte sich etwas, aber die Entfernung war zu groß, um die Natur des auffallenden Gegenstandes zu unterscheiden, und rasch hatte der Reisende ein kleines Fernrohr hervorgezogen, bald emsig den wahrgenommenen Punkt aufsuchend. Jetzt hatte er ihn gewonnen – eine weibliche Gestalt, ein weißes Tuch schwingend, stand vor dem Glase, und der Beobachtende meinte die Augen derselben so bestimmt auf sich gerichtet zu sehen, daß er nicht zweifeln konnte, sie habe auch seine Gestalt entdeckt. Ein kleiner runder Strohhut mit wehendem Schleier deckte ihren Kopf, eine leichte Hülle, die ihren Oberkörper geborgen, war von der rechten Schulter geglitten, um dem Arme freie Bewegung zu geben, und dem jungen Manne schoß plötzlich seine kürzliche Begegnung mit den beiden bergab gehenden Reisenden durch den Kopf. Sie hatten um den Verbleib einer jungen Dame gesorgt – dort oben in der schwindelnden Höhe stand diese jedenfalls, entweder verstiegen, oder durch den Bergsturz von ihrem Rückwege abgeschnitten. Er hob beide Hände zum Sprachrohr geformt vor seinen Mund und ahmte den gellenden Ruf der Hirten nach, und wenige Secunden danach kam ein von der Luft halb verwehter Laut, von einem stärkern Schwingen des weißen Tuchs begleitet, als Antwort. Er erkannte schnell genug, daß sie Hülfe von ihm erwarte, damit aber trat auch das Bild, das er sich von dem Wesen der stolzen „achselzuckenden“ Miß entworfen, vor seine Seele, und neben dem einfachen Gebote der Menschlichkeit, ihr beizustehen, fühlte er einen sonderbaren Reiz, die Bekanntschaft eines solchen Charakters in dieser ungewöhnlichen Lage zu machen.

Eine halbe Minute überlegte er, ob er nicht zu größerer Sicherheit nach dem „Hospiz“ zurückkehren und Beistand aufbieten solle. Das Haus aber war von hier wohl eine Stunde Weges entfernt, die Abgeschnittene mochte während seiner langen Abwesenheit, in eigenen Versuchen sich zu helfen, ihren Standpunkt ändern und dann nicht wieder aufzufinden sein, und überdies war es ungewiß, ob das Hospiz augenblickliche Hülfe zu bieten vermöge. In raschem Entschlusse ward er mit sich fertig, das Wagstück allein zu versuchen. Er war kein Neuling im Erklimmen von Felsen; sein Alpenstock und ein in seinem Ranzen befindliches Hanfseil hatten schon verschiedene Male bei seinen oft führerlosen Streifereien der letzten Wochen ihn aus bedenklichen Lagen befreien müssen, und als er jetzt sein Taschentuch an den Stock befestigte, um der Verirrten ein Zeichen seiner Absicht zu geben, fühlte er sein Unternehmen kaum anders als wie ein pikantes Abenteuer auf sich wirken.

Eine geraume Weile indessen ließ er umsonst die Augen an den steil aufstrebenden Felsen umherschweifen, um irgendwo eine Möglichkeit für ein Emporsteigen zu eindecken, bis endlich sein Blick von einer weit oben befindlichen Schlucht auf eine herunterlaufende dunkele Linie fiel und er hier nach mühseligen, Ueberklimmen der seinen Weg versperrenden Steinblöcke einen aufwärts führenden Absatz von kaum sechs bis acht Zoll Breite fand. Ohne Bedenken indessen betrat er, sich hart an den Felsen schmiegend, die gefährliche Bahn, die oft, lehnansteigend, seinem Fuße kaum den nöthigen Halt bot, oft in rauhen Absätzen die volle Muskelsicherheit zur Ersteigung derselben erforderte, und halb erschöpft von der gewaltsamen Anspannung aller seiner Kräfte, aber frischen Geistes erreichte er endlich die Schlucht, in welcher das von den Felsengipfeln herabrinnende Schneewasser wie ein kleiner Bach rieselte. Hier ruhte er eine kurze Minute und begann sich dann sorgfältig zu orientiren. Er stand ein ganzes Stück seitwärts des Punktes, auf welchem er die weibliche Gestalt erblickt, und seine Aufgabe, sobald er sich einen Weg in die höheren Regionen der Felsen geschaffen mußte es sein, sich dem abgeschnittenen Orte von der Seite oder dem Rücken möglichst zu nähern, dort aber erst nach Lage der Umstände über die weitern Schritte zu entscheiden.

Vorsichtig kletterte er in der Schlucht weiter aufwärts; rechts und links erschienen einzelne Felsenstücken so vom Wasser ausgewaschen, daß sich ganze Höhlen gebildet hatten; bald aber brachen die Seitenwände ab, und der Kletternde gelangte auf eine Art schmales Plateau, das nach allen drei Seiten hin in einem Gewirr von gähnenden Abgründen und zerrissenen Granit-Pyramiden endete; nach einem langsamen, scharfen Rundblicke indessen zeigte sich ihm an der Felsenmauer, die er so eben durchschnitten, eine Art natürlicher, aufwärts führender Rinne, und mit Hülfe seines in die Brüche des Gesteins eingehakten Stockes gelang es ihm, die Höhe derselben zu erreichen. Nach einer Weile mühseligen Kletterns erweiterte sich endlich der gewählte Pfad und ward ebener; bald begann er sich aber nach verschiedenen Seiten zu theilen, und der junge Mann sah sich in ein völliges Labyrinth von riesigen Blöcken, aufstrebenden Kegeln und zerklüfteten Steinmassen versetzt, das es ihm zur Unmöglichkeit machte, eine bestimmte Richtung einzuhalten; jetzt schon wußte er nicht mehr, ob er sich nicht von seinem Ziele mehr entferne, als sich ihm nähere, und zweifelnd stand er endlich still, setzte von Neuem die Hände an den Mund und ließ wiederholt einen gellenden Ruf erklingen. Aber so scharf er auch aufhorchte und so sicher er auch überzeugt war, in der ihn umgebenden Todtenstille selbst einen schwachen Antwortlaut vernehmen zu müssen, so drang doch nichts als das vereinzelte Tropfen des schmelzenden Schnees um ihn zu seinem Ohre. Er sah ein, daß er die volle Höhe des Gebirgszugs erreichen müsse, um freien Blick und Sicherheit für seine weitern Schritte zu erlangen, und die nächste Stelle benutzend, welche ihm die Möglichkeit für ein Aufwärtskommen zu bieten schien, begann er mit Hülfe seines Hakenstockes von Absatz zu Absatz in die Höhe zu klimmen. Da sah er plötzlich die von ihm genommene Linie von einer Art Pfad durchschnitten, an welchem hier und da augenscheinlich Menschenhände thätig gewesen, und als er, mit neu erwachter Frische diesem folgend, um eine hervorspringende Ecke bog, erblickte er in kurzer Höhe seitwärts die gesuchte, den Gebirgskamm überragende Felsenwand. Dort endete deutlich erkennbar der Weg auf einem gewaltigen Felsenwürfel; vergebens aber blickte der Emporklimmende nach der Gestalt der Verstiegenen umher, und als er endlich die Höhe der Wand erreicht, ohne daß sein jetzt frei umherschweifender Blick auf irgend etwas Lebendes getroffen, als sein Auge unwillkürlich den verhältnißmäßig bequemen Pfad verfolgte, welcher zu der Spitze herauf führte und der unvergleichlichen Aussicht halber, welche sich von hier über die ganze Ausdehnung des Eismeeres und die benachbarten Gletscher bot, angelegt sein mochte – da kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er wohl von einer muthwilligen Reisenden gefoppt worden sei und diese längst ihren sichern Rückzug genommen habe, während er mit Lebensgefahr sich von der Gletscherseite einen Weg zu der Höhe gesucht. Noch einmal ließ er das Auge jeden Theil seiner Umgebung überlaufen, er glaubte mit Sicherheit den Punkt bestimmen zu können, wo das Mädchen gestanden, und ein tiefer Verdruß begann in ihm aufzusteigen. Fast

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