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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

durch das Zimmer … bald darauf sank er von Neuem in den Stuhl und spielte, ein Raub nervöser Unruhe, mit den Fransen der Armlehne.

„Wie lange das dauert!“ sprach er ungeduldig und riß, ohne es zu wissen, ein Stück Franse von seinem Armsessel.

Kein Gegenstand eines Stelldichein kann sehnsüchtiger erwartet werden, als Oliver zu warten schien. Immer mehr nahm seine Aufregung zu … sein Athem ging sehr kurz … er wischte sich den Schweiß von der brennenden Stirn … …

Da klingelte es leise. Mit der Schnelle des Gedankens stieß Oliver eine Tapetenthür auf, eilte die Treppe hinab an eine Hinterpforte und öffnete behutsam. Mit halber Stimme fragte er in die Dunkelheit hinaus:

„Dick? Jackson? Seid Ihr’s?“

„Ja, ja, Sir! Nur schnell; unsre Bürde wiegt nicht leicht in den Händen und noch weniger leicht auf dem Gewissen –, wenn’s Geld nicht schwerer als Alles wöge!“

Oliver ließ zwei Männer ein, die einen langen Tragekorb angeschleppt brachten.

„Hinauf in mein Zimmer,“ ordnete Oliver an; „Ihr wißt ja Bescheid.“

„Ja, Sir, das wissen wir, so wahr wir ehrliche Todtengräber sind.“

„Und Schurken!“ murmelte der Arzt, „doch gepriesen sei Eure Büberei; was würde sonst aus der Wissenschaft!“

Und er trat aus dem Hause in einen einsamen Hof und spähte durch den Nebel, ob Jemand lausche. Es regte sich nichts; auch war von dem dichten Schleier dieses Nebels jede geheimnißvolle That verdeckt.

Oliver trat wieder in den Flur zurück, verriegelte das Pförtchen und begab sich auf sein Zimmer, wo die beiden Todtengräber soeben eine in Linnentücher gehüllte Leiche auf einen langen niedrigen Tisch niedergelegt hatten.

„Ihr ließet mich warten,“ klagte der Arzt.

„Wir eilten, so sehr wir konnten.“

„Ist’s ein Mann oder eine Frau?“

„Eine Frau.“

„Wie lange in der Gruft gewesen?“

„Kaum zwei Stunden. Spät Abends langte die Leiche auf dem Kirchhof an, begleitet vom Pastor und einer weinenden Lady.“

„Und wißt Ihr, wie sie heißt und wer sie war?“

„Du liebe Zeit! Wenn wir das von Jedem, den wir begraben, wissen sollten! Es ist eine Fremde, die von weit her kam, so viel ich hörte. Eine Einheimische ist es nicht.“

„Gut. Hier sind Eure beiden Börsen. Wie gewöhnlich wird gegenseitig reiner Mund gehalten. Ein Criminalproceß ist eine langweilige Sache, die Haft im Zuchthaus noch langweiliger. – Nun macht Euch fort. Gute Nacht! Wartet, ich werde Euch das Haus aufschließen. – So!“

Der alte Dick flüsterte Oliver beim Fortgehen noch in’s Ohr: „Sie werden zufrieden sein, Sir! So etwas haben Sie nie gesehen! Mir kamen die Thränen in die Augen, als wir die Nuß geknackt hatten und den weißen Kern erblickten. Bald hätt’ ich gemeint, Jackson, der Junge, wäre närrisch über das schöne Weibsbild geworden.“

„Nur vorsichtig, daß Euch Keiner sieht!“

„Nichts für ungut, Herr, das rothseidne Tuch, worin sie eingeschlagen war, hab’ ich mir genommen –“

„Immerhin!“

„Hab’s der Kitty gegeben; das arme Ding hatte sein Lebtag keinen Bettvorhang.“

„Nur fort!“

Die Männer gingen. Voller Ungeduld flog Oliver die Treppe hinan und trat vor den leblosen Körper.

Es überlief ihn, als er die Decke von der Leiche heben wollte. Unwillkürlich ließ er das bereits erfaßte Tuch wieder aus der Hand fallen, eine sonderbare, ihm sonst fremde Erregung bemächtigte sich seiner. Und doch war es nicht das erste Mal, daß die Todtengräber, mit denen er in heimlichem Einvernehmen stand, den Leichenraub für ihn betrieben. Dies gefährliche, aber einträgliche Gewerbe ging in England seinen Gang, trotzdem viele Familien, um sich dagegen zu schützen, des Nachts besondere Wächter an den Gräbern ihrer Angehörigen ausstellten.

Oliver holte zunächst die zur Section erforderlichen Instrumente herbei und goß frisches Oel auf die Lampe. Sodann warf er den Rock ab, streifte die Hemdsärmel auf und lüftete endlich, seine Beklemmung kaum bemeisternd, die Hülle der Todten.

Ein lauter Schrei ob des Entzückens oder des Entsetzens? – entfuhr ihm.

Da lag wie in süßem Schlummer ein zauberhaft schönes, blutjunges Weib vor ihm; wenn auch tief blaß, doch nur mit der Blässe der Leidenden, nicht der Todten. Nur das Gesicht, umflossen von langen, schwarzen Locken, in denen einzelne, welke Rosen hingen, nur die marmorweißen Schultern waren frei; den übrigen Körper, der nicht minder schön sein konnte, hüllten weiße Tücher ein.

„Ist es eine Vision?“ rief Oliver außer sich, und es durchrieselte ihn heiß und kalt. „Mein Gott – mein Gott, wie schön sie ist! – Ein einzig Mal in meinem Leben sah ich ein solches Profil – aber nicht in Wirklichkeit, nur auf der Leinwand – in Paris auf Ary Scheffer’s göttlichem Gemälde Francesca von Rimini. Und dieser Dante’schen Heldin gleicht sie! Welche Tragik um die Brauen, um die Lippen! – Weib, bist Du „im Kusse gestorben“, wie Shakespeare sterben läßt?“

Schweigend starrte er das herrliche Weib an und konnte sich nicht satt sehen an ihren Reizen. Seine Hände zitterten. Wie ein Zauber zog es ihn nieder auf die Kniee an die Seite des schönen Leichnams. „Hab’ ich darum Nächte durchwacht,“ rief er, „darum geforscht und gestrebt, um jetzt nicht einmal im Stande zu sein, diese schöne Hülle durch ein Mittel, durch irgend einen Balsam unentstellt zu erhalten? – Sie zerlegen? Nimmermehr! vor ihrer Schönheit beugt sich meine Wißbegierde.“

Er sank mit dem Kopf auf die eiskalte Schulter der Todten, und drückte seine heiße Fieberwange gegen ihre Stirn. Lange Zeit lag er so; er vergaß die Welt um sich her. „O,“ rief er endlich schmerzzerrissen, „daß ein Wunder geschähe, daß ich im Stande wäre, sie in’s Leben zurückzurufen, – daß mein glühender Athem ihren bleichen Lippen Purpur anhauchte! Daß ein Messias an ihr Lager träte, daß er spräche: „stehe auf und wandle!“ und ich mit ihr fliehen könnte weit – weit von hier! – Grausame Wirklichkeit! Sie läßt uns stets nur Seligkeiten ahnen, und gewährt sie nie!“

In wilder Gluth küßte er die erstarrten Hände der schönen Leiche. „Der einzige heiße Wunsch in meinem Leben, er bleibt mir unerfüllt!“ stöhnte er erschöpft.

Eine Wanduhr, die im Zimmer tickte, erinnerte ihn daran, daß die Zeit nicht still stand und der Tag nicht fern sein konnte. – Eine Anwandlung bittern Trotzes folgte seinem leidenschaftlichen Schmerz. Er warf mit plötzlich wiederkehrender Entschlossenheit die Decke über die Todte und entfernte sich einige Schritte von ihr, dann öffnete er ein Fenster, beugte sich hinaus und sog die kalte Nachtluft ein. Das beruhigte ihn etwas; – er schloß das Fenster und sprach dumpf vor sich hin: „Wo gerieth ich hin? Wo war ich? – Bin ich noch derselbe Oliver, der mit kaltem Blute eherner Festigkeit seine Bahn wandelte? – Lächerlich! Ich stehe im Begriff, eines schönen Gesichtes halber meine Wissenschaft zu vergessen, und wünsche thöricht die Auferstehung eines mir unbekannten Weibes. – Nicht da hinaus! Noch bin ich nicht völlig von Sinnen!“ –

Und mit fest aufeinander gepreßten Lippen nahm er das blinkende Messer vom Boden auf, zog mit fester Hand die Hülle von der Leiche und wollte das Werk der Zerstörung beginnen – – da – - - all ihr Götter! zuckt ihre Wimper ....

Dieses Mal hat Oliver keine Kraft mehr aufzuschreien; – ein Gefühl namenloser Angst und rasenden Entzückens schnürt ihm die Kehle zu; – noch hält er das Messer konvulsivisch in der Hand, - - siehe! die Mundwinkel der Scheintodten beben – –

Kaum daß Oliver noch so viel Besinnung hatte, zu einem Becken kalten Wassers zu schwanken, beide Hände hinein zu tauchen und sich die Schläfen zu netzen, um seiner Sinne Herr zu werden, denn er glaubt sich von einem wüsten Traum bethört. Unsichern Blickes tritt er zu der Auflebenden – es ist kein Traum, - - sie holt Athem - - das Blut strömt warm durch ihre Adern - - Oliver schleudert das Messer weit von sich, schließt jubelnd, lachend und schluchzend das schöne Weib in die Arme und erspäht trunken ihren ersten Blick und legt seine Hand auf ihr klopfendes Herz. Dann, mit heißer Inbrunst auf die Kniee stürzend, ruft er unter strömenden Thränen: „Sie lebt! Allmächtiger Gott, sie lebt!!“

Aufspringend, sie umfassend, trägt er die holde Last aus dem

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