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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Es war den Worten nach wahr, dem Sinne nach unwahr. Aber es brachte mich schnell zu meinem Ziele, wie ich der eben so einfachen, wie zähen Frau gegenüber erwartet hatte.

„Was macht der arme Herr?“ fragte sie rasch und neugierig, und vielleicht nur zum dritten Theile überrascht.

„Er hat zu leben –“

„Ja, ja.“

„Aber er ist still und traurig, wie immer.“

„Ja, ja,“ sagte sie noch einmal.

„So war er auch von Ihnen fortgegangen?“ fragte ich sie.

„Denn er war ja wohl hier bei Ihnen?“

„Er war hier bei mir. Und so ging er von hier fort. Ich mußte weinen, als wenn er mein eigener Sohn gewesen wäre.“

Sie war nur noch ganz Mitleid. Der alte Siedler war kein Schwätzer mehr. Sie erzählte mir Alles, was sie wußte, und doch für mich so wenig. Durch die Sturmglocke des Klosters war sie in jener Nacht vor sieben Jahren geweckt worden. Fast in derselben Minute hatte sie leise Stimmen und Schritte draußen an ihrem Fenster gehört. Wer konnte um Mitternacht, während es gerade unten stürmte, da oben mitten im Walde, an dem kleinen, einsamen Hause etwas zu suchen haben? Sie war aufgestanden und öffnete ein Fenster. Es war eine helle Sommernacht. Vor dem Fenster stand eine Nonne, in ihrer vollen grauen und weißen Klosterkleidung. Die alte Marthe wußte, warum auf dem Kloster die Sturmglocke läutete.

„Um Gotteswillen, was wollen Sie hier? Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ rief sie der Nonne zu.

„Frau,“ sagte die Nonne, „bei mir ist ein Sterbender; nehmen Sie den auf, um Gottes Barmherzigkeit willen!“

Die alte Marthe war eine brave Frau. Sie war schon von dem Fenster fort; sie sprach drei Worte mit ihrem Manne, der auch damals krank war, machte die Hausthür auf und trat aus dem Hause.

Auf dem Moose, an einer der Platanen neben dem Hause, lag ein kranker Mensch. Die Nonne hatte sich über ihn gebeugt und stützte ihm das Haupt, das weiß war, wie das weiße Kopftuch der Nonne. Die Augen des Kranken waren geschlossen.

„Wasser!“ bat die Nonne. „Schnell, er stirbt sonst.“

Die Frau holte Wasser. Sie besprengten und wuschen den Kranken damit; er erwachte aus seiner tiefen Ohnmacht; aber nur auf einen Augenblick. Er sah die beiden Frauen an, die alte Marthe verwundert, dann die Nonne, als wenn er sie, wie die Alte sagte, vor Dankbarkeit verzehren wollte. Es hatte doch noch etwas Anderes, so ganz Besonderes in dem Blicke gelegen, meinte sie; aber es war ihr erst später aufgefallen, nachdem sie auch Anderes gehört und gesehen hatte. Dann aber waren dem Kranken die Augen wieder zugefallen, und er war in dem Arme der Nonne eingeschlafen.

Die Nonne hatte unterdeß der Alten erzählt. „Der arme Mensch,“ hatte sie gesagt, „kann nicht weiter. Sie werden ihn nicht verstoßen. So müssen Sie von ihm wissen, wer er ist und wie es mit ihm ist. Er hat mit drüben in der Revolution gekämpft; der Fuß wurde ihm zerschossen, und er mußte zurückbleiben und sich verbergen. Die Soldaten machten Jagd auf ihn, wie auf ein wildes Thier. Den braven Bauern, die ihn verbargen, war es endlich heute gelungen, ihn aus dem Lande zu schaffen. Aber ihr Unternehmen mußte verrathen sein. Auf dem Rheine, als sie schon nahe an dem Schweizer Ufer waren, wurden sie von Soldaten zu Schiffe verfolgt. Wie durch ein Wunder entkamen sie. Ich war dazu gekommen und konnte ihn nicht verlassen. Die Leute, die ihn gebracht hatten, mußten weiter; auch er, der Verwundete, durfte nicht dableiben. So habe ich ihn hergebracht. Die Wunde an seinem Fuße war ihm unterwegs wieder aufgegangen. Unter unsäglichen Schmerzen, unter unsäglichen Mühen ist er bis hier oben gekommen. Sie verstoßen ihn nicht, gute Frau?“

„Nein, nein,“ sagte die Alte.

„Und auch mich nicht? Ich kann nicht in das Kloster zurück. Ich kann nicht.“

„Auch Sie sollen hier bleiben. Sicher sind Sie hier oben. Es sucht Sie kein Mensch bei uns.“

Der Verwundete und die Nonne wurden in das kleine Haus geschafft. Dem Verwundeten wurde ein Lager bereitet. Die Nonne wurde sein Arzt und seine Pflegerin. Sie war ihm noch mehr, und das war sie ihm nicht erst jetzt geworden, meinte die alte Frau. Sie hatten sich schon früher gekannt; es mußte schon vor längerer Zeit gewesen sein. Sie blieben Beide, manche Wochen lang, bis der Verwundete so weit genesen war, daß er keiner fremden Hülfe weiter bedurfte. Zu dem einsamen, versteckten, kleinen Hause kam Niemand. Der verschwundenen und verfolgten Schwester Marcella war dort nicht einmal nachgefragt worden.

Die Wiedergenesung des Kranken hatte bald begonnen; unter der Pflege, die er hatte, mußte es so sein. Er hätte in der Welt keine liebevollere, treuere, sorgsamere Pflegerin finden können, als die Nonne ihm war. Sie wich bei Tage nicht von ihm, sie schlief des Nachts an der Erde zu den Füßen seines Lagers. Sie hatte ärztliche Kenntnisse und Geschicklichkeit; sie besorgte den Verband seiner Wunde, sie wußte ihm aus den Kräutern des Waldes wohlthuenden und stärkenden Trank zu bereiten. Sie hatte der alten Marthe Manches erzählt, Manches aber auch nicht, und die gutmüthige Alte hatte ihr Schweigen und ihr Geheimniß geehrt. Sie hatte auch erzählt, wie der Verwundete gerettet war. Sie selbst war seine Retterin gewesen.

Sie war nicht glücklich da unten im Kloster gewesen; sie hatte dort nicht den Frieden und die Ruhe gefunden, die sie zu finden gehofft hatte und deren ihr Herz doch so sehr bedürfen mochte. Bei Tage hatte sie den Nonnen nicht zeigen dürfen, wie unglücklich sie war; aber wenn sie des Nachts allein in ihrer Zelle war, dann konnte, dann mußte sie sich ausweinen. Der Schlaf kam nicht zu ihr; sie mußte von ihrem Lager aufstehen und dem dunklen Nachthimmel, dem Wasser, das unter ihrem Fenster vorüber rauschte, den Felsen, die vom andern Ufer her zu ihr herübersahen, ihr Leid, ihr Weh klagen.

So hatte sie auch in jener Nacht gestanden, da der Verwundete in dem kleinen Nachen von dem jenseitigen Ufer hergekommen war. Auf einmal hatte sie gesehen, wie der Nachen verfolgt wurde. Die beiden Ruderer hatten mit übermenschlichen Kräften gearbeitet, um den Verfolgern zu entkommen. Sie waren dicht an das Kloster heran, dann stromaufwärts gefahren. Da war ihr ein Gedanke der Rettung für die armen Leute gekommen, die sich selbst wohl schon für verloren hielten. Sie mußte wagen, viel, Alles, und sie that es. Sie verließ ihre Zelle und eilte zu dem Gange, der im Innern des Klosters zu der Kirche führte. Die Thür zu dem Chor der Nonnen war nur von innen verriegelt. Sie öffnete sie und kam auf das Chor. Eine verborgene Treppe führte von da hinunter zu einer Seitencapelle der Kirche. Die Capelle stieß an den Garten des Klosters. Ein Fenster der Capelle führte etwa fünf Fuß hoch in den Garten. Sie kletterte zu dem Fenster hinauf, öffnete es und sprang in den Garten. In dem Garten war ein Teich, hinten an der Mauer, durch ein Pförtchen in derselben in unmittelbarer Verbindung mit dem Rhein, der an der andern Seite der Mauer floß. Am Ufer des Teiches lag eine kleine Gondel; sie sprang hinein, löste dieselbe ab, ruderte zu dem Pförtchen, das gleichfalls nur von innen verriegelt war, und riß es auf.

Sie war gerade zur rechten Zeit gekommen. Eine halbe Minute später langten die Verfolgten an. Die Verfolger waren ihnen auf den Fersen.

„Hierher!“ rief sie.

Die gewandten Ruderer warfen den Nachen herum; das schmale Fahrzeug flog durch das Pförtchen. Die Nonne drückte die Thür hinter ihm zu. Die Verfolger draußen mußten wie vor einem plötzlichen Zauber stehen. Die Verfolgten waren gerettet.

Auch weiter. Die beiden Ruderer mußten ihr helfen, den Verwundeten zu führen; sie kehrte mit ihnen zu der Capelle zurück. Der Verwundete wurde durch das Fenster hineingeschoben. Man kam in die Kirche. Die Nonne, die Novize, die Gehülfin der Glöcknerin, wußte, wo die Schlüssel zu den Kirchthüren waren. Sie schloß eine auf. Durch Dunkel und Stille der Nacht kamen sie in’s Freie, in den Wald, zu dem kleinen, verborgenen Hause. Die beiden Ruderer hatte sie am Saume des Waldes fortgeschickt, um nicht verrathen zu werden, wohin sie ging. Das kleine Haus hatte sie vom Kloster aus oft genug gesehen.

Den fremden Kahn mußten die Nonnen in der folgenden Nacht still und heimlich in den Rhein zurückgebracht haben. Nirgends ist man verschwiegener und muß man oft verschwiegener sein, als in den Klöstern.

Die Schwester Marcella war freilich auch außerhalb des Klosters verschwiegen gewesen, und sie mochte auch wohl ihre Gründe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_226.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)